Gefährliches Gemeinwohl

FDP Die Demokratie lebt vom Streit der Interessen. Wer sich über den Klientelismus der Hotelierpartei beklagt, sollte lieber die eigenen Anliegen besser zur Geltung bringen

Es ist bezeichnend, dass die Debatten ums Gemeinwohl und um die Führungsstärke der Kanzlerin zeitgleich aufkamen

VON RALPH BOLLMANN

Wenn sich alle Beobachter einig sind, ist Misstrauen angebracht. Dass die FDP eine verdammenswerte Klientelpartei sei, gilt seit ihren gesundheits- oder hotelpolitischen Eskapaden allgemein als ausgemacht. Auch über die herbeigesehnte Alternative besteht weithin Konsens: Linke wie konservative Kritiker rufen nach einer Regierung, die „das Gemeinwohl“ vertritt. Auch und gerade in einem Milieu, das dem schwarz-gelben Modell prinzipiell positiv gegenübersteht, ist die Entrüstung groß.

Was das sein soll, „das Gemeinwohl“, wissen die Kritiker allerdings selbst nicht zu sagen. Wie sollten sie auch? Die parlamentarische Demokratie westlichen Musters, so lernten wir es schon in der Schule, lebt vom Streit der Interessen. Das mühsame Geschäft eines durchschnittlichen Politikers besteht darin, den Schnittpunkt dieser Interessen zu ermitteln. Die Leistung eines großen Politikers wäre es, um mit Helmut Schmidt zu sprechen, diesen Schnittpunkt ein wenig zu verschieben.

Der naive Glaube an ein angebliches Gemeinwohl ist dagegen eine schlechte Tradition des deutschen Obrigkeitsstaats, er ist im besten Fall paternalistisch und im schlimmsten Fall totalitär. Ein Parlament jedenfalls ist nicht vonnöten, um dieses „Gemeinwohl“ zu ermitteln. Es bedarf vielmehr weiser Experten, nach Möglichkeit mit Professorentitel ausgestattet, die das objektiv Richtige ermitteln. Und es bedarf eines willensstarken politischen Führers, der das als richtig Erkannte gegen die Widerstände lästiger Interessenvertreter durchsetzt. Am besten „kompromisslos“, wie ein weiteres deutsches Unwort lautet. Es ist durchaus bezeichnend, dass die Debatten ums Gemeinwohl und um die Führungsstärke der Kanzlerin zeitgleich aufkamen.

Dass nun auch Leute die Interessenpolitik der FDP beklagen, die einst Gerhard Schröders Basta-Politik bekämpften, erscheint besonders kurios. Denn auf nichts anderes als auf die Schröder’sche Diktatur der Expertenräte läuft das Plädoyer fürs Gemeinwohl hinaus: Fachleute wie der Ökonom Bert Rürup oder der frühere VW-Vorstand Peter Hartz ermitteln die einzig mögliche Lösung für ein Problem. Der Beitrag des Politikers beschränkt sich darauf, dies für „alternativlos“ zu erklären – und sich dann darüber zu wundern, dass ihm die übergangenen Interessengruppen bei der nächsten Wahl die Zustimmung entziehen.

Denn die Währung, mit der politische Interessenvertretung bezahlt wird, ist am Ende die Wählerstimme – auch wenn die deutschen Parteien bedauerlicherweise nicht davor zurückschrecken, sich von Interessenten auch Parteispenden zustecken zu lassen.

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Groß- und Kleinparteien, der allerdings im Zuge ihrer arithmetischen Annäherung schrumpft. Die politischen Großformationen Union und SPD trugen lange Zeit den Streit der Klientelinteressen schon innerhalb der eigenen Partei aus – oder neutralisierten ihn, im Falle der CSU, durch gleichmäßige Befriedigung aller Interessengruppen. Bei FDP, Grünen und Linkspartei ist das gesamtgesellschaftliche Spektrum naturgemäß nicht ganz so vollständig vertreten. Auch wenn etwa die Grünen gern behaupten, ihnen gehe es ums Ganze, vertreten sie doch vorzugsweise die Sichtweise des akademischen Bürgertums. Das sollte man ihnen aber keineswegs zum Vorwurf machen. Gottlob dürfen sie das Land, wie jede andere Klientelpartei auch, nicht ohne Koalitionspartner regieren.

Das Problem ist nicht, dass die FDP Klientelismus betreibt. Das Problem besteht eher darin, dass andere gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen offenbar nicht hinreichend zu Geltung bringen. Die FDP dominiert das politische Geschäft derzeit so konkurrenzlos, weil weder der Koalitionspartner noch die Oppositionsparteien genau wissen, wessen Interessen sie eigentlich vertreten. Sich über Klientelpolitik zu beschweren, statt die eigenen Anliegen effektiv zur Geltung zu bringen, ist aber politisch naiv.

Wer etwa die Begünstigung von Arbeitgebern beklagt, sollte lieber einer Gewerkschaft beitreten, um die Anliegen der Arbeitnehmer besser zur Geltung zu bringen. Wer sich darüber ärgert, dass er als Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung die Gewinne von Ärzten, Apothekern und Pharmafirmen steigern soll, hätte bei der Bundestagswahl besser eine andere Partei gewählt – um sich dann allerdings darüber zu beklagen, dass er ein teures, aber nach Expertenmeinung nutzloses Medikament nicht mehr verschrieben bekommt.