Wir sind sehr verlässlich

NEUDEUTSCH Die Maikrawalle sind fester Bestandteil der Nationalkultur. Ein Besuch im Hamburger Schanzenviertel, der nicht enttäuscht

■ Der Neudeutsche: lebt seit April 2001 in Deutschland. Er wurde zunächst zum überzeugten Bonner und ist seit Neuestem jetzt auch noch Berliner. Er arbeitet hier als freier Journalist und schreibt für die sonntaz regelmäßig über seine Heimat. Foto: privat

VON KHALID EL KAOUTIT

Wir Deutschen seien ein komisches Volk, sagen die anderen über uns. Wir hätten keinen Humor, wir seien pünktlich, wir seien emotionslos. Die Wahrheit ist aber, dass bis auf die Sache mit unserer Pünktlichkeit diese Behauptungen nichts weiter als Klischees sind. Denn wir können lieben. Vor allem Sicherheit und klare Verhältnisse.

So hat sich der 1. Mai zu einem festen, verlässlichen Termin in der Bundesrepublik etabliert, an dem Steine geworfen und Autos abgefackelt werden. Das aber nur in Berlin und Hamburg. In den beiden Städten plant die Polizei ihre Einsätze Monate im Voraus und kann sich Unterstützung von den anderen Bundesländern holen, in denen, wie jedem ebenso bekannt sein dürfte, eh nichts passiert. So bleibt es im Regelfall auch in Berlin und Hamburg ein überschaubares, überraschungsfreies Streitszenario mit klaren Regeln. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen autonomen Linken und Polizei, das mit ein paar Festnahmen, ein paar zerschlagenen Scheiben und ein paar verletzten Beamten am Abend des 1. Mai beendet wird. Auf Überraschungen hoffend, bin ich dieses Jahr, pünktlich zum 1. Mai, nach Hamburg in das Schanzenviertel gefahren, um über den Protest- und Krawalltermin aus der Hansestadt und nicht aus Berlin, der Stadt, in der ich wohne und die ich mittlerweile gut kenne, zu berichten. In Hamburg, der Stadt im kapitalistischen Teil des damals geteilten Deutschlands, sollten die Klassenunterschiede noch krasser sein als im seit dem Niedergang der Nazis auf Subventionen angewiesenen Berlin. In Hamburg hat sich der Kapitalismus sein Wachstum geschaffen. Folgerichtig sollte sich auch die Arbeiterklasse ihr Wachstum geschaffen haben. Folgerichtig sollte der Klassenkampf umso zugespitzter sein. Zumindest so behauptete es Karl Marx, einer von uns, seinerzeit.

Geplant hatte ich eigentlich eine Reportage – mit vielen Bildern und Interviews. Doch der Verlauf des Abends zwang mich, über uns Deutsche, über unsere Protest- und Streitkultur nachzudenken. Es passierte nämlich nichts, und wo kein Adrenalin fließt, entsteht Freiraum für Gedanken.

Schon als ich am Bahnhof Sternschanze ankam, wurde mir klar, dass dieser Klassenkampf eher theoretisch werden würde. Ein übermäßig großes Polizeiaufgebot und zahlreiche Personenkontrollen sollen verhindern, dass „verdächtige“ Personen bis zum Gebäude der Roten Flora am Schulterblatt gelangen. Diesen Bereich hatte die Hamburger Polizei als „Gefahrenzone“ eingestuft. So wird jeder, der die Kreuzung zwischen Schulterblatt und Rosenhofstraße bzw. Juliusstraße erreicht, von einer Beamtenkette gestoppt und nach dem Ausweis gefragt. Nur Einwohner, Journalisten und unauffällige Personen dürfen in den abgeriegelten Bereich. Allen anderen wurde ein Platzverweis erteilt. Wer un- bzw. auffällig ist, so schien mir, oblag allein der Einschätzung des einzelnen Polizisten. Bei diesem Prozess respektierten alle die Regeln: Die Polizisten fragten nach dem Ausweis, die anderen zeigten ihren Ausweis. Manchmal wurden die persönlichen Daten abgeschrieben. Währenddessen warteten die Ausweisbesitzer, bis die Beamten fertig waren. Beim Platzverweis blieb die oder der Betroffene höchstens stehen und genoss weiter ihr oder sein Bier. Klassenkampf im Wartestand.

Auf dem Schulterblatt selbst sowie rund um die Rote Flora hatte sich trotzdem eine nicht unbeachtliche Menge an Menschen – darunter eine unverhältnismäßige große Zahl von Journalisten – versammelt. Wie ich später erfahren habe, hatte die Polizei nur zeitweise die Eingänge gesperrt, um sie später wieder zu öffnen. Nach welcher Logik, das bleibt für mich ein Rätsel. Vor dem WaWe 10.000, einem eine Million Euro teuren Wasserwerfer, standen Schaulustige und ließen sich fotografieren.

Die Beamten standen kampfbereit mit breiten Beinen, angespannten Biceps brachii und bösem Blick und wollten den Beweis liefern, wer auf dem Platz das Sagen hatte. Vereinzelte Zurufe wie „Scheißpolizeistaat“ schienen die „Bullen“ gar nicht zu interessieren. Die Bediensteten anderer Polizeistaaten wie Tunesien oder Ägypten hätten anders reagiert. Aber das gehört zu unserer Streitkultur in Deutschland: Die Polizisten im „Polizeistaat“ Deutschland dürfen nicht mit Schlägen auf Pöbeleien antworten. Die große Mai-Schlacht blieb aus. Zur Enttäuschung der Schaulustigen und der Journalisten, die vergeblich auf Sensationsbilder hofften. Andere schrien: „Journalisten – Faschisten.“

Doch kurz vor ein Uhr traten vier Jugendliche vor einen der Wasserwerfer und fingen an, ganz ohne Musik zu tanzen. „Keine Auskunft“, gab mir ein Mädchen aus der Gruppe zu Antwort, als ich sie nach dem Grund fragte. Dass ich meinen Auftraggeber nannte, die taz, hatte eher eine andere Wirkung als die von mir gewünschte: „Die taz ist doch Scheiße. Sie können nicht mal über Linke und Nazis differenziert berichten“, sagte sie. Höflich verabschiedete ich mich und wünschte der Gruppe viel Spaß. „Wir sind nicht wegen Spaß hier, sondern wegen der Sache“, antwortete einer. „Aha. Und was ist eure Sache?“ – „Ist doch klar“, sagte er. Als er bemerkte, dass ich mit dieser Antwort nicht zufrieden war, fügte er hinzu: „Die Rote Flora muss bleiben.“ Ende!

In Hamburg sollten die Klassen- unterschiede noch krasser sein als in Berlin

Gut. Ich entschloss mich, noch eine Runde zu drehen. Noch ein Stück Pizza. Noch ein Bier.

Ab und zu hörte man einen lauten Knall. Danach wurde gebrüllt. Und auf den nächsten Knall gewartet. „Unspontanes Schauspiel mit vier Stunden Anlauf“, murmelt meine Begleitung. Ab und zu kam es zu Festnahmen. Zwei Polizisten drückten einen Mann gen Boden und fesselten seine Hände mit Kabelbindern. Der Festgenommene schrie einen der Polizisten mehrmals mit „Arschloch“ an. „Ich habe einen neuen Spitznamen, und der heißt: Arschloch“, antwortete der Polizist. Und belegt damit den Humor der Deutschen. Ich gehe schlafen.

Am nächsten Morgen, bei Burritos mit Homous, erfahre ich, dass in der Nacht doch noch ein paar Steine flogen und Autos brannten. Wir Deutschen sind ein berechenbares Volk.