Riesen sind sensibel

NORM Große Menschen genießen hohes Ansehen und verdienen sogar mehr. Sind sie jedoch zu groß, ergeht es Riesen wie Zwergen. Sie werden ausgegrenzt und belacht

■  Vermeiden: Wie ist die Luft da oben? Spielst du Basketball? Welche Schuhgröße hast du? Säufst du aus der Dachrinne? Musst du dich bücken, wenn du durch eine Tür gehst? Ist alles so groß an dir?

■  Antworten: Die Internetseite www.grosseleute.de sammelt für diese und andere dumme Fragen kluge Entgegnungen.

VON MARCEL ATLAS

Die Menschheit ist in den letzten Jahren rund 14 Zentimeter gewachsen. In die Höhe. Meine Familie hat dabei mitgemacht. Schon meine Mutter, Jahrgang 1940, war mit 1,75 Metern viel größer als der Durchschnitt ihrer Altersgenossinnen, was ihr auf dem Dorf Prügel einbrachte – von den Jungen, nicht von den Mädchen. Mein Vater war mit 1,82 Metern ein sogenannter stattlicher Mann, und Mutter war heilfroh, einen zu finden, der ihr von der Größe her ebenbürtig war. Der Bruder meines Vaters war hingegen fast zwei Meter groß – im Deutschland der Fünfziger wurde er daher Industriekapitän und eine ähnlich mächtige, bräsige Persönlichkeit wie Helmut Kohl. Es war selbstverständlich, dass man ihm, trotz fehlendem Schulabschluss, eine leitende Funktion übertragen hatte. Bis heute erfahren größere Menschen mehr Anerkennung, machen eher Karriere und verdienen sogar mehr.

Und das Wachstum ging weiter: Der Sohn des Industriekapitäns erreichte eine Größe von 2,10 Metern. Das aber war nun viel zu groß für das Deutschland der Siebziger, in dem andere Werte als Bräsigkeit gefragt waren. Meinem Cousin gelang es auch nicht, seinen Übervater im Leben zu überwinden. Anstatt Karriere zu machen, ging er an Alkohol und Tablettensucht zugrunde. Nie hatte er passende Schuhe gefunden, und in das Leben als solches hatte er auch nicht gepasst. Baggerfahrer war er von Beruf. Um sich zu retten, hätte er vielleicht Basketballer werden müssen oder Elitesoldat. Das hätte gepasst.

Meine großen Eltern hoben nun in den Fünzigerjahren an, ihrerseits große Kinder in die Welt zu setzen, um diese fürderhin noch größer zu ziehen. Mein Bruder erreichte in den Achtzigerjahren eine Körpergröße von 2,02 Metern. Die Achtziger waren statistisch gesehen eine der stärksten Wachstumsphasen der deutschen und nordeuropäischen Menschen. Aber 2,02 Meter waren trotzdem zu viel für diese kleine Welt, in der wir unsere Kindheit und Jugend verbrachten – eine Kleinstadt hinter dem Wald. Mein großer Bruder wurde derart gehänselt und ausgegrenzt, dass ich selbst mit 16 Jahren beschloss, das Wachstum einzustellen und den Rest meines Lebens mit dem ungefährlicheren Gardemaß von 1,85 Metern zu durchschreiten.

Ich bildete mir das natürlich nur ein, weil ich als Kind heimlich den Film „Die Blechtrommel“ gesehen hatte. Das Geheimnis des Wachstums besteht vielmehr aus einem filigranen Gewebe von genetischen Faktoren und Umweltbedingungen – also Schicksal. Größe ist zu einem Teil erblich, und zum anderen gilt, frei nach Karl Marx: Je höher der Lebensstandard, je besser die Umweltbedingungen und je weniger die Kinder körperlich arbeiten müssen, desto größer werden sie. Der soziale Status und die durchschnittliche Körpergröße korrelieren, weshalb die WHO anhand der durchschnittlichen Körpergröße den Ernährungszustand in Drittweltländern misst.

Wenn es nach der Körpergröße meines Bruders gegangen wäre, dann wäre meine Familie eine der reichsten, mächtigsten und wohlhabendsten in der ganzen Gegend gewesen. In Wirklichkeit war die Größe jedoch nur Ausdruck eines genetischen Erbes, das mit dem Wohlstand der BRD zusammenfiel. Zu essen gab es immer genug. In der Schule wurde noch reihengeimpft, und die körperliche Arbeit für Kinder beschränkte sich auf das Rasenmähen. Und doch litt mein Bruder sehr – und ich mit ihm. Immer ragte er heraus, war falsch. Nichts wollte so recht zusammenpassen: die viel zu langen Beine, der massige Rumpf und der weiche, sensible Ausdruck in seinen Augen. Wenn er mit dem blauen Mofa zur Schule fuhr, war er kein Easy Rider sondern eine Witzfigur, die das kleine, knatternde Gefährt an seine Grenzen brachte. Seine Kleidung war nie „cool“, sondern immer ein aufwendig beschaffter Notbehelf. Sie musste passen, nicht gut aussehen – aber das konnten seine Klassenkameraden nicht verstehen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, ihre eigenen Unsicherheiten zu bedecken.

Immer stieß er sich irgendwo den Kopf, und nie passte er in ein Auto. Kampfpilot hätte er gerne werden wollen. Aber weil er zu groß für die Flugzeuge war, machte er die Flugzeuge kleiner und den Modellflug zu seinem Hobby. Mühsam lernte er, das Beste aus seinem Anderssein zu machen. Er lernte, die Schultern gerade zu halten und die Brust herauszustrecken. Er lernte, dass Schlagfertigkeit und Offenheit gegenüber Menschen die beste Waffe gegen deren Häme und Unsicherheit ist. Heute könnte er einen Saal unterhalten, doch noch immer erkennt kaum jemand, auf welch tönernen Füßen dieser Koloss steht. Seine Verletzlichkeit, seine Empfindsamkeit machen ihm zu schaffen wie seine überlasteten Gelenke.

Und das Wachstum geht weiter. Der Sohn meines Bruders, mein Neffe, ist vier Jahre alt und schon jetzt so groß wie ein Grundschüler. Man prognostiziert, dass er 2,20 Meter erreicht. Ein riesiges Kind, das dem Leib seiner zierlichen Mutter entsprang. Wenn er ein Gleichaltriges schubst, fällt dieses um. Daher wird er nicht mehr zu Kindergeburtstagen eingeladen. Alle erwarten von ihm, dass er sich wie ein Großer benimmt, obwohl er noch so klein ist. Daher ist er jetzt im Sonderkindergarten. Er soll sprechen wie ein Großer. Daher ist er jetzt bei der Logopädin. Er soll normal sein. Daher wird sein genetisches Material jetzt unter die Lupe genommen. Mein Neffe ist in einer Zeit geboren, in der Kinder unter Beobachtung stehen und jede Devianz als beängstigend empfunden wird. Neulich saß meine Familie beieinander. Mein kleiner Neffe blickte in die Runde all der riesigen Menschen und sagte strahlend: „Ich bin zu groß.“ Zumindest meine Familie braucht ein Ende des Wachstums.

■ Zum Schutz seiner Familie schrieb der Autor unter Pseudonym