Rentiere kommen unter die Windräder

In Nordschweden soll bis 2020 Europas größter Windkraftpark für 5 Milliarden Euro entstehen. Die geplanten 1.101 Windräder werden allerdings die Ren-Weideflächen empfindlich beeinträchtigen. Die Genehmigungsbehörde hält das für „vertretbar“

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Es geht um 1.101 Windkraftanlagen, die eine Leistung zwischen 3.000 und 4.000 Megawatt summieren sollen – etwa so viel wie vier Atomkraftwerke. Schweden hing bislang bei der Windenergie weit hinter Ländern wie Spanien oder Deutschland zurück. Doch nun sollen gleich 5 Milliarden Euro in Europas größten Windpark investiert werden auf einer Fläche von rund 450 Quadratkilometern zwischen den nordschwedischen Städten Piteå, Älvsbyn und Arvidsjaur.

Das Gebiet – etwa halb so groß wie die Fläche Berlins – ist vorwiegend bewaldet und nahezu menschenleer. Und trotzdem sind Menschen betroffen: die indigenen Sami mit ihren Rentieren.

Beispielsweise das Sami-Dorf Östra Kikkejaur mit 4.000 Rentieren: Ein Viertel der Weidefläche würde vom Windkraftpark Markbygden Vind in Anspruch genommen. Klar ist, dass die Rentiere nicht nur beim Bau, sondern auch beim Betrieb der im Abstand von 400 bis 800 Metern aufgereihten Rotoren – Durchmesser bis zu 126 Metern – gestört werden. Unklar ist allerdings, in welchem Umfang. Die Genehmigungsbehörde, die jetzt grünes Licht für das Projekt gegeben hat, konnte sich nur auf widersprüchliche Studien aus Alaska, Kanada und Norwegen stützen. Und diese sind nicht übertragbar, da es längerfristige Erfahrungen mit Großanlagen wie der jetzt geplanten noch gar nicht gibt. Das schlimmste Szenario sei, dass die Rentiere das fragliche Gebiet gänzlich meiden – und das sei vertretbar. Schließlich seien lediglich 3 Prozent der nordschwedischen Rentierweidefläche betroffen. Kein Trost für die Sami in Östra Kikkejaur. Die müssen vermutlich ihren Rentierbestand wegen der schrumpfenden Weidefläche um ein Viertel reduzieren.

Dass der schwedische Staat die Interessen der Energieproduktion höher einordnet als die der dortigen Urbevölkerung, hat Tradition. Schon als in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Nordschweden die Wasserkraft durch den Bau großer Stauseen massiv ausgebaut wurde, ging das zulasten der Sami und ihrer Rentiere. Ging man damals recht rücksichtslos vor, sollen jetzt im Rahmen eines gemeinsam zwischen Windkraftbetreibern und Sami-Verbänden betriebenen „VindRen“-Projekts Richtlinien entwickelt werden, wie es zu möglichst geringen negativen Auswirkungen auf die Rentierzucht kommen kann. Aufgrund günstiger Windbedingungen und der geringen Bevölkerungsdichte Nordschwedens ist das jetzige Windkraftprojekt nur eines von vielen, die man dort verwirklichen will.

Am Projekt Markbygden Vind, das bis 2020 realisiert werden soll, ist auch die deutsche Enercon mit 25 Prozent beteiligt. Sie plant in Piteå eine eigene Fabrik zur Produktion der Windenergieanlagen, die 200 Beschäftigte haben soll. Zwei Windkraftanlagen stehen seit einigen Monaten: An diesen Pilotanlagen sollen Erfahrungen beim Betrieb im kalten Klima gesammelt werden. Europas größter Windkraftpark soll im Endausbau 10 bis 12 Terawattstunden liefern – 8 Prozent der jährlichen schwedischen Stromproduktion.