„Es droht der Gang zum IWF“

ARGENTINIEN Wirtschaftspolitische Fehler haben das Wachstum des Landes abgewürgt. Die Inflation belastet die Armen, sagt der ehemalige Staatssekretär Eduardo Marcelo Kohan

■ Eduardo Marcelo Kohan, 59, war in den Jahren 2002/2003 Staatssekretär für Telekommunikation, bis Nestor Kirchner das Präsidentenamt übernahm. Gegenwärtig arbeitet er als Unternehmensberater.

taz: Herr Kohan, das Versprechen des Präsidentenehepaars Kirchner war es, die Armen wieder in die argentinische Gesellschaft zu integrieren. Wie ist das gelungen?

Eduardo Marcelo Kohan: Den Anspruch, die sozial Ausgegrenzten zu integrieren, kann niemand ernsthaft in Frage stellen. Was der damalige Präsident Néstor Kirchner einleitete, ist das Gegenstück zu dem neoliberalen Modell der 1990er-Jahre. Er schützte die nationale Produktion, gab Anreize zur Schaffung einer weiterverarbeitenden Industrie und machte eine staatliche Ausgabenpolitik für die öffentliche Infrastruktur. Das ist eine keynesianische Politik.

Nach der schweren Krise von 2001 hatte Argentinien Wachstumsraten um die 8 Prozent. 2009 wird die Wirtschaft knapp 2 Prozent schrumpfen. Was ist passiert?

Die Wirtschaft wuchs tatsächlich jährlich um die 8 Prozent. Aber mit dem direkten Eingreifen von Kirchner in die Wirtschaftspolitik und dem Abgang des damaligen Wirtschaftsministers Lavagna wurden ab 2006 wirtschaftspolitische Fehler gemacht. So wurde die Nachfrage über enorm ansteigende Staatsausgaben überstimuliert. Das Angebot konnte nicht mithalten, denn die vorhandenen Produktionskapazitäten waren bereits ausgelastet. Die Folge waren steigende Preise und Kaufkraftverlust.

Aber die Kirchner-Regierungen waren bei der Armutsbekämpfung doch überaus erfolgreich?

Im Jahr 2002 waren 50 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht. Von Mitte 2002 bis 2006 kamen rund 8,5 Millionen Menschen wieder aus der Armut heraus. Das war ein großer Erfolg der Politik. Doch die Ausgabenpolitik der Regierung Kirchner ab 2006 bewirkt eine Zunahme der Armut. 2008 hatten wir eine Inflation von 25 Prozent. Und mit dem Anstieg der Inflation steigt der Bevölkerungsanteil unterhalb der Armutsgrenze. Von den 8,5 Millionen Menschen, die über die Armutsgrenze klettern könnten, sind 2 Millionen bereits wieder abgerutscht.

Geht dem Staat das Geld aus?

Die staatliche Übernahme des Vermögens der privaten Rentenversicherung hatte der Regierung Luft verschafft. Aber nun tun sich keine solchen Quellen mehr auf und niemand will heute Argentinien mehr Kredit geben oder wenn, dann nur zu verrückt hohen Zinssätzen. Die nächste soziale Explosion droht in der Provinz Buenos Aires. Möglicherweise muss Argentinien bald beim Internationalen Währungsfonds anklopfen.

■ In Argentinien hat Präsidentin Cristina Kirchner mit einer Umbildung ihres Kabinetts auf die Niederlage bei den Kongresswahlen reagiert. Am Dienstag traten Kabinettchef Sergio Massa und Wirtschaftsminister Carlos Fernández zurück. Neuer Kabinettschef wird der bisherige Justizminister Aníbal Fernández. Zum Wirtschaftsminister wurde mit Amado Boudou der bisherige Chef der staatlichen Rentenversicherung ANSeS ernannt. Nach der Wahl hatte die Präsidentin einen Wechsel im Kabinett noch ausgeschlossen. Bei den Kongresswahlen Ende Juni hatte die Regierungspartei eine schwere Niederlage erlitten. JUVO

Ist das Kirchner-Modell gescheitert?

In Argentinien gibt es vier Millionen Bedürftige, davon leben 1,6 Millionen im Großraum Buenos Aires, die in keiner Weise von dem Wirtschaftswachstum und dem Anstieg der Arbeitsplätze der letzten Jahre profitiert haben. Die geschaffenen Arbeitsplätze haben nur die abgerutschte Mittelschicht aus der Armut geholt. Zu denen, die bereits zuvor in der Armut lebten, ist nichts vorgedrungen. Während die Kirchner-Regierung also ihr Modell des sozialen Einschlusses propagiert, macht sie keine konkrete Politik, um die strukturellen Ursachen des Ausschlusses zu beseitigen.

INTERVIEW: JÜRGEN VOGT