Tradition mit Sultaninen

CHRISTSTOLLEN Bäcker und Konditoreien in Thüringen kämpfen gegen industriellen Stollen und für die Beibehaltung überlieferter Backrezepte

VON STEFFEN GRIMBERG

Der Erfurter Weihnachtsmarkt liegt malerisch am Fuße des Dombergs. Von oben grüßen St. Marien und St. Severi, unten stört nur ein kleineres Riesenrad das weihnachtliche Idyll aus festlich dekoriertem Budenzauber. Regelrecht aggressiv kommt da das Banner an einem der tannenumflorten Stände daher: „Schutzverband Thüringer Weihnachtsstollen“ steht darauf. Eine Bürgerwehr heimattreuer Bäcker?

In der Art. 2005 gegründet, kämpft der „Schutzverband“ gegen den vollindustrialisierten Kommerz im Backgeschäft im Allgemeinen. Und für die Beibehaltung alter Originalrezepte, handwerklicher Herstellung und Begeisterung für weihnachtliche Geschmacksvielfalt im Besonderen.

Stollen- und Schittchen-Patent Nr. 306990032

2007 hat der „Schutzverband Thüringer Weihnachtsstollen und Erfurter Schittchen e. V.“, wie der Verbund von derzeit 28 unabhängigen Bäcker- und KonditormeisterInnen mit vollem Namen heißt, den ersten großen Durchbruch errungen: Der „Thüringer Weihnachtsstollen“ ist nun eine in Deutschland geografisch geschützte Herkunftsbezeichnung. Unter der laufenden Nummer 306990032 werden Stollen wie Schittchen beim Deutschen Patent- und Markenamt in der Klasse 2.4 „Feine Backwaren“ geführt – wobei Schittchen nichts anderes als die rund um Erfurt übliche Bezeichnung für Stollen ist.

So steht der seit Jahrhunderten in der Region verbürgte Weihnachtskuchen in einer noblen, geschützten Reihe mit dem Eichsfelder Feldgieker (einer Wurstspezialität) und den Thüringer Klößen, denen Gastropapst Wolfram Siebeck kurz nach der Wende mit seiner Bemerkungen, es handle sich eher um „Feuchtballen“ ein etwas ungerechtes Denkmal setzte.

Wer dem Schutzverband angehört oder dessen Siegel führen will, muss sich den rigiden Standards des echten Stollenbackens unterwerfen: Die allgemeine Spezifikation legt Mengen und Zutaten fest, die nicht unterschritten werden dürfen. Abweichungen nach oben, sagt die Dame am Weihnachtsmarktstand, seien dagegen erlaubt und gern gesehen. Zwölf unterschiedliche Stollen hat sie im Anschnitt, hergestellt in den Backstuben und Konditoreien von Schmalkalden bis Artern und Nordhausen bis Suhl: eher süße mit extrem luftigem Teig, eher lockerfeste mit mal mehr, mal weniger Rosinen. Doch halt, „Rosinen“ wäre natürlich viel zu einfach: Es müssen Sultaninen aus der Sultana-Traube sein, und zwar reichlich: Auf ein Kilogramm Mehl kommen mindestens 550 Gramm Sultaninen – also satte 55 Prozent der Mehlmenge –und dazu noch einmal 15 Prozent Zitronat und Orangeat sowie mindestes 10 Prozent „Mandeln süß und bitter“. So will es die herrlich bürokratisch formulierte „Spezifikation gemäß Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2081/92“. Denn herauskommen sollen schließlich dabei amtlich besiegelte „hochwertige Stollen aus schwerem Hefeteig“. Das Mehl hat zu 100 Prozent aus Thüringen zu stammen, Zitronenschalen, Puderzucker und Spirituosen sind erlaubt. Die in vielen anderen Stollen mittlerweile übliche Marzipanmasse allerdings ist tabu.

Backtriebmittel und anderes Teufelszeug gehen auch nicht: „Der Teig muss in der seit Jahrhunderten überlieferten Form der Hefevermehrung durch ein Hefestück angesetzt werden“, sagt Konditormeister Hans Schreier. Und das muss bitte schön volle 20 Minuten gehen und auch die folgende, mindestens 60-minütige „Teigruhe“ ist akribisch einzuhalten und darf auf keinen Fall wie bei Industrieware üblich mit chemischen Pfusch verkürzt werden. Was dann kommt, ist sowieso Handarbeit: Der Teigling wird geformt und entweder mit dem französischen Rollholz geschlagen oder mit einem Messer geschnitten – „woher sich wohl der Begriff Erfurter Schittchen herleitet“, so Schreier. Er hat seinen Laden in Zella-Mehlis vor zwei Jahren an seinen Sohn übergeben und kümmert sich jetzt bei der Kreishandwerkerschaft Suhl unter anderem um den Stollenschutz.

Mindestens 100 Jahre älter ist der Thüringer Weihnachtsstollen als das hier und da vielleicht berühmtere Pendant aus Dresden, Lexika vermelden eine erste urkundliche Erwähnung im 14. Jahrhundert in der Uta-Stadt Naumburg an der Saale. Das liegt heute zwar in Sachsen-Anhalt, aber nur ein paar Kilometer von der thüringischen Landesgrenze entfernt.

Spätestens nach dem sechsten Stück ist man satt

Die nachgeborenen Dresdner – auch dort gibt es übrigens einen Stollenschutzverband – waren genau genommen sogar Geburtshelfer des thüringischen Stollenschutzes. Denn sächsische Großbäckereien hätten ihre Industrieware immer dreister unter dem Label „Thüringischer Weihnachtsstollen“ im Nachbarland abgeladen, so Schreier. Das ist heute zwar nicht mehr möglich, doch die ebenfalls geforderte europäische Anerkennung als geschützte Regionalmarke lässt weiter auf sich warten: „Die fragen auch die Befindlichkeiten der Konkurrenz ab. Und dann heißt es bei denen wieder, das kann doch jeder und wir haben auch guten Stollen“, murrt Schreier.

Zurück auf dem Erfurter Weihnachtsmarkt werden großzügig zugeschnittene Stollen-Probierstücke gereicht. Spätestens nach dem sechsten ist man satt. Verblüffend, wie unterschiedlich ein und dasselbe Grundrezept schmecken kann – eine Weinprobe ist nichts dagegen. Doch von unterschiedlichen Sorten kann an den benachbarten Glühweinständen keine Rede sein. Hier simmert die mattsüße Standard-Christkindlsplörre aus dem Großgebinde. Doch auch den Stollenstand des Schutzverbands gibt es 2009 schließlich zum ersten Mal – vielleicht geht ja irgendwann auch was beim Glühwein.