Schulreform in Marzahn-Hellersdorf: In Marzahn schlummert viel Potenzial

Integrations- und Bildungspolitik werden wichtige Themen bei der Abgeordnetenhauswahl sein. Marzahn-Hellersdorf will neue Wege gehen.

Knapp die Hälfte der Kinder im Bezirk lebt von Hartz IV. Bild: dpa

Im Laufschritt führt Jutta Höxtermann durch ihr Schulgebäude. Die Frau ist Schulleiterin, sie hat viel zu tun, ebenso wie der Besucher, dem sie die Räumlichkeiten vorführt: Stefan Komoß (SPD), Bildungsstadtrat in Marzahn-Hellersdorf. Fast alle Schulen seines Bezirks hat Komoß schon besucht. Doch in der Falken-Grundschule ist er heute zum ersten Mal.

Und das hat einen Grund: Die kleine Grundschule im nordöstlichsten Kiez der Hauptstadt, der den Grenzen des Bezirks geschuldet trotzdem Marzahn-Nordwest heißt, platzt aus allen Nähten. Von 180 auf derzeit 350 habe sich ihre SchülerInnenzahl in fünf Jahren erhöht, erzählt die Schulleiterin. Unterricht und Nachmittagsbetreuung müssen in denselben Räumen stattfinden, auch Platz für Angebote an die Eltern fehlt. Der Plan des Stadtrats: Ein Tonstudio im Keller, Projekt eines freien Trägers, soll umgesiedelt werden, damit die Schule mehr Platz hat.

Der Platzmangel ist Zeichen einer Trendwende: 63 von einst 110 Schulen hat der Bezirk seit der Wende geschlossen. 60.000 Schulkinder hatte Marzahn-Hellersdorf 1995, "jedes vierte Berliner Kind", sagt der Stadtrat. 2007 waren es noch 20.000 - ein Rückgang, der alle anderen Bezirke übertraf. Nun übertrifft der Wiederanstieg alle Erwartungen: Mit einem Schülerzuwachs von 26 Prozent bis 2017 habe man in der letzten Bevölkerungsprognose von 2007 gerechnet, so Komoß: "Heute gehen wir von 30 Prozent bis 2014 aus."

Dass die Zahl steigt, liegt nicht nur an mehr Geburten, sondern auch an Zuzügen, aus anderen Teilen der Stadt wie dem Ausland. In den Plattenbauten am Rande Marzahns ist Wohnraum noch billig, der Leerstand sank von 11 auf 6 Prozent. Hierher kommen viele, die die steigenden Mieten in der Innenstadt nicht mehr zahlen können. Mit den Zuzügen ist auch der Anteil von Kindern nichtdeutscher Erstsprache an der Falken-Grundschule von 20 auf knapp 40 Prozent gestiegen.

Für Schulleiterin Höxtermann kein großes Problem: "Damit kann man umgehen", sagt sie. Aber es gebe Sprachdefizite und Kulturunterschiede, der die Schule etwa mit einem Projekt begegne, bei der die SchülerInnen eine CD über ihre verschiedenen Herkunftskulturen und -traditionen herstellen. Zudem helfen KulturdolmetscherInnen beim Umgang mit Einwandererfamilien. "Bei russisch- und polnischstämmigen Eltern ist Alkohol oft ein Problem", sagt Höxtermann. Das betreffe aber auch deutschstämmige Familien: "Das ist kein ethnisches, sondern ein soziales Problem", meint die Schulleiterin. Sie erzählt von Kindern, die ohne Frühstück und Pausenbrot zur Schule kommen, weil sie als einzige morgens aufstehen in der Familie, wo Mutter und Vater arbeitslos sind; die zu Hause neben Fernsehen und Computerspielen keinerlei Anregung bekommen: "Das ist nicht die Mehrheit. Aber das Problem haben wir."

Stadtrat Komoß, neben Schule noch für Sport und Finanzen zuständig und seit 2008 auch Vizebürgermeister, muss Marzahn-Hellersdorf durch einen rasanten Entwicklungslooping lenken: 249.515 Einwohner hat der Bezirk. Drei Viertel davon leben in den Plattenbau-Großsiedlungen, die nur etwa ein Drittel der Fläche des Bezirks einnehmen. Auf dem Rest wachsen riesige Reihenhaussiedlungen: Jeder dritte Marzahn-Hellersdorfer wohnt mittlerweile im Einfamilienhaus.

Doch die Platten prägen noch immer das Image des Bezirks: Die Arbeitslosigkeit in den Großsiedlungen liegt mit fast 14 Prozent über dem Berliner Durchschnitt, der zuletzt 12,6 Prozent betrug. Knapp die Hälfte der Kinder im Bezirk lebt von Hartz IV. 50 Prozent aller Eltern sind alleinerziehend, bei Teenagerschwangerschaften ist Marzahn-Hellersdorf führender Bezirk. Mit 13 Prozent besuchen fast doppelt so viele SchülerInnen Sonderschulen wie im übrigen Berlin. Knapp 12 Prozent der Bewohner sind MigrantInnen, bei den unter Sechsjährigen sind es bereits 23 Prozent.

Kaum verwunderlich, dass Komoß ein Fan der Schulreform ist, die mit der Abschaffung von Haupt- und Realschulen die Bildungschancen von deren ehemaliger Schülerschaft verbessern soll. "Die niedrigen Schulabschlüsse produzieren Armut", sagt Komoß. "Sie bieten kaum berufliche Chancen." Die Schulreform könnte die soziale Schieflage im Bezirk ändern, hofft er.

Auch die Zahl der Abiturienten soll steigen: Bisher gehen nur etwa 40 Prozent der Marzahn-Hellersdorfer SchülerInnen zum Gymnasium, berlinweit sind es über 50 Prozent. Fünf Gymnasien hat der Bezirk, dazu zwei Sekundarschulen mit Oberstufe. Die will Komoß ausbauen: "In fünf Jahren wollen wir bei 50 Prozent Abiturienten sein." Gleichzeitig fördert der Bezirk aus eigenen Mitteln die Berufsberatung an Oberschulen.

Mit dem Modellprojekt "Inka" hat er sich ein weiteres ehrgeiziges bildungspolitisches Ziel gesteckt: Grundschulen sollen Kinder mit Förderbedarf nicht mehr zu Sonderschulen schicken, stattdessen kommen SonderpädagogInnen an die Regelschulen. Von ehemals neun Förderschulen existieren noch fünf, drei davon sollen noch geschlossen werden. In den zwei Jahren, die Inka läuft, hat der Bezirk sein zuvor unterdurchschnittliches Ergebnis bei den Grundschulvergleichstests "Vera" auf Berliner Durchschnitt verbessert.

Aussichtslose Kandidatur

Bei all dem wirkt Komoß, 46 und geborener Badener, so freundlich und bieder - fast ein wenig zu sehr für Berlin, für die SPD, für den Bezirk. Seit 1991 lebt er dort, leitete als Historiker und Politologe einen privaten Bildungsträger. In der SPD ist Komoß seit 1989, seit 2007 Schulstadtrat. Für die kommenden Wahlen stellt die Partei ihn als Bezirksbürgermeisterkandidaten auf. Bleibt es bei der derzeitigen Stimmverteilung, ist das aber kaum aussichtsreich: Zwar war die SPD 2006 zweitstärkste Partei im Bezirk, blieb mit 25 Prozent der Stimmen aber weit hinter den 38 Prozent der Linken, die derzeit die Bürgermeisterin stellt, zurück. Und während die Linkspartei in Berlin insgesamt nur 8.800 Mitglieder, davon aber 1.060 in Marzahn-Hellersdorf hat, leben von den 16.500 Berliner SPD-Mitgliedern nur schlappe 300 dort.

Darunter aber sehr aktive: Bilgin Lutzke lebt seit 1999 in Marzahn, von dem sie zuvor keine Vorstellung hatte, erzählt die aus Hamburg eingewanderte Türkischstämmige. Seit 2005 ist sie in der SPD, in Marzahn hat Lutzke die Arbeitsgemeinschaft Migration des Bezirksverbands aufgebaut und leitet sie nun. Mit integrationspolitischen Themen kennt sich die 47-Jährige aus: Einst war sie die erste muslimische Erzieherin bei einer evangelischen Kita in Norddeutschland, später gründete sie eine bikulturelle Kita in Frankfurt.

Bevor Lutzke in die SPD eingetreten sei, hat sie "gründlich überlegt", erzählt sie. "Eigentlich bin ich eher ein Praxismensch." Für kompromissorientierte Parteiarbeit habe sie "eine zu große Klappe." Vor allem integrationspolitische Debatten nerven sie: "Da versuchen die einen, die sich für klüger halten, die anderen zu erziehen."

Mit Komoß Politik kommt die streitbare Deutschtürkin allerdings gut klar: Der kritisiert deutlich seine Kollegen vom rechten Flügel der SPD, die mit Zwangsmaßnahmen wie der Kitapflicht ab dem ersten Lebensjahr Integration herbeiführen wollten, "aber gegen das Integrationsgesetz gestimmt haben", so Komoß, "obwohl das doch eine echte Chance für Partizipation der Einwanderer ist." Das Potenzial jedes Menschen zu erschließen, das sei sein Begriff von Integration. Schon jetzt kämen Betriebe auf ihn zu, die Hilfe bei der Suche nach Auszubildenden suchen: "Wir brauchen Einwanderer", so Komoß: "Sie tun unserer Gesellschaft gut." Viele Politiker - auch aus seiner Partei - müssten da noch umdenken. Und auch in Marzahn-Hellersdorf muss sich noch einiges ändern, findet der Stadtrat: "Es gibt noch zu wenig Einwanderer, die sagen, sie fühlten sich hier willkommen. Doch wir haben das erkannt und arbeiten daran."

Es sei nicht ausgeschlossen, dass er das nach der Wahl nicht mehr auf Bezirksebene tue, munkelt man in Teilen der SPD. Doch dazu sagt freundliche Bezirksstadtrat lieber nichts.

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