20 Jahre Hausbesetzung in Ostberlin: Küchen, die Geschichte schrieben

Vor 20 Jahren wurde die "Jessi" in Friedrichshain besetzt. Bis heute ist das "Hippie-Haus" für seine Konzerthöhle Supamolly bekannt. Heute fühlen sich auch junge Familien dort wohl - auch der Gemeinschaftsküchen wegen.

Damit fing alles an: 1. Mai-Krawalle zwischen linken Hausbesetzern und der Polizei in den Achtziger Jahren. Später bekam auch Friedrichshain seine Straßenschlachten. Bild: AP

Er werde sich um den Einspruch bei Google kümmern, sagt Horst. Darum, dass die Jessi bei Streetview gepixelt werde. Thomas nickt. Dann rollt sich Horst eine Zigarette zurecht und nestelt sie zwischen seinen Fingern. "Ach ja, Nichtraucherküche", murmelt der 35-Jährige mit dem aufgeknöpften Hemd und legt die Kippe zur Seite.

Die beiden Männer sitzen am Holztisch der Familienküche, ganz oben unterm Dach des Vorderhauses. Milchkaffee steht auf dem Tisch und ein Blumenstrauß. Neben der Sofaecke liegen Bauklötze. Die Gemeinschaftsküchen, sagt Thomas, ein 44-Jähriger mit runder Brille und Glatze, seien das Herz der Jessi. Um die fünf Küchen organisiere sich das Leben im Haus. Jeder Bewohner ordnet sich einer zu. Horsts Küche liegt im Hinterhaus. Die mit der Dachterrasse, dem Hundeverbot und dem Sonnenschein ab mittags. Dann gebe es noch die Stasi-Küche, unten im ersten Stock. Wegen der Sprelacart-Möbel, die dort jahrelang standen. Und wegen des direkten Blickes auf die Jessnerstraße - wo Besucher stets als Erstes erspäht werden.

Der Häuserkampf: Nach einer dreitägigen Straßenschlacht in der Mainzer Straße wurden die zwölf besetzten Häuser am 14. November 1990 durch tausende Polizisten geräumt. Um die Brutalität der Besetzer zu belegen, präsentierte die Polizei danach eine 20-Liter-Flasche, die in einem Häuser als Brandsatz bereitgestanden habe.

Die Videoshow: Die Polizei jagte mehrere von ihr "Super-Molly" genannte, benzingefüllte Ballonflaschen auf einem Sprengplatz in die Luft. Ein Polizeivideo dokumentierte die eindrucksvollen Explosionen. Kopien davon fanden in der Besetzerszene großen Anklang.

Das Supamolly: Ex-Besetzer der Mainzer Straße sagten später, die Flasche habe nicht Benzin, sondern vergorenen Apfelmost enthalten - zur Alkoholgewinnung. Die Flasche gab dann der Kneipe in der Jessnerstraße den Namen. (ga)

Zwanzig Jahre blickt die Jessi auf die Straße am Ostrand Friedrichshains. Ein dunkelroter Farbklecks inmitten einer sanierten Straße mit Rotdorn-Bäumchen: rostbraune Balkone, rankender Efeu, ein großer Draht-Drachen im Hinterhof und vorne raus immer noch das Laken: "Kein Fußbreit den Faschisten, kein Handbreit dem System". Wenigen Hausprojekten dieser Stadt ist eine derartige Langlebigkeit beschieden.

Es ist Anfang Juli 1990, als ein Dutzend Westberliner Linke in Friedrichshain nach einem neuen Domizil suchen. Die Zeitschrift Interim hatte eine Liste großer, leerstehender Häuser veröffentlicht, in der Jessnerstraße sei es am grünsten gewesen, erinnert sich Samuel, einer der Erstbesetzer. Eine völlige Ruine seien Hinterhaus und Seitenflügel gewesen. Löcher im Boden, kaputte Fenster, Schimmel.

Als im November 1990 die Mainzer Straße geräumt wird, flüchten sich die Bewohner der dortigen 9 und 11 in die Jessi. Noch im gleichen Jahr sind alle Flügel voll. Die Bewohner eröffnen den Supamolly, eine Anarcho-Kneipe und Konzerthöhle im Hinterhof-Keller. Es ist der zu der Zeit größte und wohl auch düsterste Friedrichshainer Alternativ-Treff - und bleibt bis heute das Aushängeschild der Jessi.

Überhaupt sind das die wilden Jahre des Hausprojekts. Zweimal attackieren "Fascho"-Trupps aus dem benachbarten Lichtenberg das Haus mit Steinen und Mollys, zweimal werden sie wieder vertrieben. Dann kehrt Ruhe ein. Denn 1992 werden aus den Besetzern Mieter: Bevor die erste Räumungsschlacht gefochten ist, verteilt die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain Einzelmietverträge gegen Duldung. Sieben Jahre später übernehmen die Jessianer das Haus komplett: als Genossenschaft, die sie zusammen mit drei weiteren Häusern bilden. Man sei für Barrikaden zuständig, nicht für Mietverträge, sträubte sich das Plenum anfangs gegen das Modell, erinnert sich Thomas. "Aber hätten wirs nicht gemacht, gäbe es uns heute wahrscheinlich gar nicht mehr."

Es ist dieser Mut zum Kompromiss, der die Jessi überleben lässt. Man lädt die Nachbarn zum Kuchen in die Küche, der Genossenschafts-Bauleiter wird Stammgast im Supamolly. Schnell wird die Jessi zur "Hippie-Hütte" der Szene. Musiker und Schauspieler finden hier neben Anarchos Unterschlupf. Anders als anderswo geht es hier undogmatisch zu. Auch die taz attestiert der Jessi 1996 "in Sachen Humor ihren Genossen um Längen voraus" zu sein.

Horst und Thomas führen die Treppen hinab vor die Bühne im dunklen Supamolly, durch eine alte Hinterhof-Remise, die mal Ofensetzerei war. "Hier unten habe ich Veranstaltungstechnik gelernt", erzählt Horst. Bei ihm sei es das Schlosserhandwerk gewesen, sagt Thomas. Künstler, Handwerker, Studenten, Arbeitslose wohnen aktuell in der Jessi, zählen die beiden auf; auch eine Ärztin und ein Chilene, der die 70 überschritten habe, seien dabei. Insgesamt etwa 45 Leute, darunter Familien mit Kleinkindern.

Bergeweise trugen die Bewohner vor zehn Jahren Schutt auf die Straße, sanierten drei Jahre lang mit der "wohnungspolitischen Selbsthilfe" des Senats ihr Haus, von oben bis unten. Heute läuft man über abgezogenes Parkett, es gibt zehn hell geflieste Gemeinschaftsbäder, im Hinterhof grünt und blüht es. Zum Plenum treffen sich die Bewohner noch alle vier bis sechs Wochen, um politische Entscheidungen geht es dabei nur mehr selten. Eher steht Alltägliches im Vordergrund. "Man muss nicht mehr alle Probleme im Plenum hochpushen", sagt Horst. Man habe gelernt, manches auch einfach friedlich auszusitzen.

Was sich nicht gewandelt hat, betont der 35-Jährige, sei der Gemeinschaftsgedanke im Haus. Das explizit gewollte Zusammenleben, die offenen Türen, die Gemeinschaftsräume. Und der Supamolly als Wohnzimmer, Integrationspunkt und Haus-Ökonomie. Nicht einmal habe man in den 20 Jahren für die dort erbrachte Kultur Fördergelder gesehen, bemerkt Horst. "Und trotzdem ist kein Ende abzusehen." Auch deshalb, weil für Neuankömmlinge die Tür der Jessi immer noch einen Spaltbreit weiter offen steht als bei anderen Hausprojekten. Ein Veto gegen Einzugsanwärter gebe es fast nie, sagt Horst. Er ist selbst überrascht, als er das feststellt.

Horst selbst nämlich hat es noch erfahren, 1999 war das. Als er sich mit seinen alten Mitbesetzern verstritten hatte, zog er auf einen Baum, der auf einer Brache neben der Jessi stand. Vier Tage hätten ihn die Jessi-Leute beäugt, dann zum Frühstück und zum Bleiben eingeladen. Horst blieb, sieben Jahre. Dann zog er in eine eigene Wohnung - nur um zwei Jahre später wieder zurückzukehren. Er habe das nicht mehr gekonnt, sagt Horst. Die Decke sei ihm auf den Kopf gefallen. Jetzt bleibe er hier. "Vielleicht bis ich Rentner bin, mal sehen."

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