Das Flüchtlingslager wird geschlossen: Neuanfang in Marienfelde

Für 125 Flüchtlinge aus dem Irak war das ehemalige deutsch-deutsche Auffanglager der Weg in eine neue Heimat. Auch für Abu Tariq, einen Gartenbauingenieur aus Bagdad. Nun wird das Lager geschlossen. Die letzte Familie verlässt Marienfelde am Freitag.

Ein Wort beherrscht Abu Tariq bereits sicher: "Gartenbauingenieur", fällt er der Übersetzerin ins Wort, die gerade berichtet, der Exil-Iraker sei studierter Agrarwissenschaftler. "Gartenbauingenieur", wiederholt er, lächelt, lehnt sich zurück. Das ist sein Beruf, darin möchte er arbeiten. Doch noch muss er sich gedulden, schließlich ist Tariq erst seit knapp einem Jahr in Deutschland, und über dieses eine Wort hinaus sind seine Sprachkenntnisse noch dürftig.

Gemeinsam mit seiner Frau, dem damals einjährigen Sohn und seiner Mutter ist der 38-Jährige am 15. September 2009 im Auffanglager in Marienfelde angekommen. Die vier gehören zu den 125 als besonders schutzbedürftig geltenden irakischen Flüchtlingen, die seit März letzten Jahres im Rahmen eines Programms der Europäischen Union in Berlin aufgenommen wurden. Deutschlandweit waren es 2.500, europaweit 4.000 von eigentlich vorgesehenen 10.000 Menschen, die zuvor aus dem Irak bereits nach Syrien oder Jordanien geflohen waren.

Abu Tariq bedeutet auf Arabisch Vater des Tariq und ist nicht der richtige Name des Mannes, der in Poloshirt zur Anzughose in einem Büro des Diakonischen Werkes Neukölln-Oberspree sitzt und aus seinem Leben berichtet. Doch mit vollem Namen mag er nicht in der Zeitung stehen. Er wurde verfolgt, kam als Flüchtling nach Deutschland, da bleibt man vorsichtig.

"Meine Familie und ich verließen unsere Heimat Bagdad 2006, nachdem ich mehrere Drohbriefe erhalten hatte", erzählt Tariq. Als Mitglied der christlichen Gemeinde habe er sich nicht mehr sicher gefühlt. Nachdem ein Cousin seiner Frau entführt worden war, habe seine Familie die Konsequenzen gezogen.

Die jordanische Hauptstadt Amman war ihr Ziel, gedacht als vorübergehende Lösung, bis sich die Verhältnisse im Irak wieder beruhigt hätten. Doch die Situation wurde nicht besser. "Nach einem Jahr ließen wir uns beim UNHCR als Flüchtlinge registrieren." Zwei Jahre später vermittelte das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Tariq und seiner Familie Berlin als neue Heimat.

Norbert Trosien vom Berliner Büro des UNHCR war an der Auswahl der Flüchtlinge in Amman sowie Damaskus beteiligt. "Entscheidende Kriterien waren für uns die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit und die Integrationsfähigkeit im Zielland", sagt er. Für Tariq sprach demnach, dass sein Bruder bereits in Berlin lebte.

Dass sieht er auch selbst so. "Dass mein Bruder schon in Berlin war, hat uns sehr geholfen." So konnte er bereits zwei Monate nach seiner Ankunft mit Frau und Kind aus Marienfelde in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung nach Neukölln ziehen. Für seine Mutter fand sich eine eigene kleine Unterkunft in der Nachbarschaft.

"Wir wurden zwar bei der Wohnungssuche und allen nötigen Behördengängen unterstützt, aber letztendlich war ich es, der die neue Wohnung im Internet entdeckt hat", sagt Tariq. Andere Flüchtlinge seien schon vor ihm in Marienfelde gewesen, und noch da, als er wieder auszog. Doch an diesem Freitag wird das Auffanglager endgültig schließen. Bis dahin müssen alle eine eigene Unterkunft gefunden haben.

Unterstützt werden sie dabei von den Mitgliedern des irakischen Kulturvereins Al Rafedain, der für die Erstbetreuung zuständig ist. Unter ihnen Ahmad El-Hakim, der in den vergangenen Monaten fast täglich nach Marienfelde fuhr, um sich um die Menschen dort zu kümmern. "Die deutschen Behörden sind sehr kooperativ. Auch mit Schulen und Krankenkassen gab es bisher kaum Probleme", sagt er. Die entstandenen Kosten würden ohne große Diskussionen vom Senat übernommen. Schwierig sei dagegen manchmal der Umgang der Flüchtlinge untereinander. "Die neue Umgebung, zerrissene Familien, der Lagerkoller - aber eskaliert ist nichts."

Darüber hinaus sorgt sich der Verein auch um die Unterbringung in Integrationskursen. Diese umfassen 600 Stunden Sprachunterricht und 45 Stunden Orientierungskurs, in denen es um die Vermittlung gesellschaftlicher und politischer Werte in einer Demokratie geht. "Doch schicken sie mal einen 18-Jährigen in einen deutschen Sprachkurs, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat und Analphabet ist", meint El-Hakim. In solchen Fällen sei zunächst Basisarbeit nötig, die ebenfalls die Mitglieder seines Vereins übernähmen - und das nicht nur im sprachlichen Bereich. "Wir erklären auch, dass es etwa in Deutschland nicht üblich ist, seinen erwachsenen Sohn zu ohrfeigen." Kulturelle Unterschiede seien ein großes Thema.

Auch für Abu Tariq war die Ankunft in Berlin wie ein Schritt in eine neue Welt. "Das einzige, was ich über Deutschland wusste, war, dass hier Produkte mit sehr guter Qualität hergestellt werden", sagt er. Begeistert habe ihn die perfekte Organisation im Umgang mit den Flüchtlingen. In seiner Heimat laufe vieles ganz anders. Dann stockt er kurz. "Wenn jemand dort getötet wird, ist das ganz normal."

Eine Tante von Tariq lebt immer noch im Irak, doch der Rest der Familie ist nun in Deutschland. Von dem Problem der Familienzusammenführung ist er damit nicht betroffen. "Eigentlich suchen wir bei der Auswahl der Flüchtlinge nach zusammenhängenden Familienverbänden", sagt Trosien vom UNHCR. "Dadurch wollen wir verhindern, dass aus einer Flüchtlingsquote von etwa 2.500 Menschen letztendlich 7.000 werden." Dennoch gebe es immer wieder Fälle, in denen Familienangehörige nachgeholt werden sollen, was ein typischer Problemherd sei.

Seit April besucht Tariq den Integrationskurs. Seine Frau ist zurzeit noch zu Hause und betreut den kleinen Sohn. Bald soll er in die Kita kommen, sodass auch sie mit dem Sprachkurs beginnen kann. "Wir möchten endlich irgendwo ankommen", sagt Tariq. "Natürlich bliebt der Irak meine Heimat, die ich emotional nicht aufgebe." Aber unter den jetzigen Zuständen könne er sich eine Rückkehr nicht vorstellen.

Abu Tariq hat Glück gehabt. Er ist nach Berlin gekommen und durfte seine Familie mitbringen. In der christlichen Gemeinde fand er gleich Anschluss, mit wachsenden Sprachkenntnissen hofft er auf weitere Kontakte auch zu Deutschen. Während etwa in Brandenburg irakische Flüchtlinge über Isolation klagen, fand Tariq in der multikulturellen Szene von Neukölln ein neues Zuhause. Das Einzige, was ihm jetzt noch Sorgen macht, ist die Anerkennung seines Abschlusses. "Gartenbauingenieur", wiederholt er. Sein Sprachkurs ist zu Ende, das Aufenthaltsrechts gilt zunächst für drei Jahre. Doch dass er danach zurück in den Irak geschickt wird, das kann Tariq sich nicht vorstellen.

AHMAD EL-HAKIM, HELFER

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