Heikle Themen im Geschichtsunterricht: "Vielen Lehrern fehlt der Abstand"

Viele Berliner Pädagogen vermitteln Ereignisse der jüngsten Vergangenheit einseitig, weil sie sie selbst erlebt haben, sagt Anita Mächler, Vorsitzende des Landesverbands Deutscher Geschichtslehrer. Das gelte auch für die DDR.

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung bestand die DDR nicht nur aus ulkigen Produktmarken Bild: dpa

taz: Frau Mächler, wie viel erfahren Berliner SchülerInnen über die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands?

Anita Mächler: Da sind wir schon mitten im Dilemma des Geschichtsunterrichts: Der Stoff wird immer mehr, gleichzeitig schwindet das Stundenvolumen. Gerade mal zwei Wochenstunden Geschichte sind wenig, wenn man bis zum Schulabschluss die Gegenwart erreichen soll.

Schaffen das die LehrerInnen überhaupt?

Die zentrale staatliche Feier zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit findet in diesem Jahr in Bremen statt. Für Berlin fällt immerhin ein dreitägiges Volksfest ab heute mit Fressständen, Bier und 400 KünstlerInnen aus acht Bundesländern, darunter Ulla Meinecke und Edo Zanki. Gefeiert wird, wie immer, am Brandenburger Tor und auf der Straße des 17. Juni.

Wie sich SchülerInnen der jüngsten deutschen Geschichte nähern, zeigt die Ausstellung "Der Einheit auf der Spur" in Marienfelde. Im ehemaligen Notaufnahmelager präsentieren mehr als 300 SchülerInnen Collagen, Theaterstücke, Umfragen, Fotos, Videos und Interviews, die Teil eines Wettbewerbs waren. Eröffnung ist am Sonntag um 14 Uhr in der Marienfelder Allee 66-80.

Zu Ende geht die Open-Air-Ausstellung auf dem Alexanderplatz zur "Friedlichen Revolution". Zur zweitägigen Finissage fährt die veranstaltende Robert-Havemann-Gesellschaft Live-Musik, Straßentheater, Performances und Lesungen auf, unter anderem von Peter Wawerzinek, der heute um 15 Uhr liest. Seit der Eröffnung im Mai 2009 haben geschätzte zwei Millionen Menschen die Multimedia-Schau besichtigt.

Sie müssen: Bis zur Gegenwart, das ist eine Vorgabe des Berliner Rahmenplans. Eine andere ist, der Zeit des Nationalsozialismus genug Zeit einzuräumen. Über den Rest muss man in weiten Sprüngen hinweggaloppieren. Dabei hat jede Schule einen gewissen Spielraum und kann im Rahmen ihres schulinternen Curriculums eigene Schwerpunkte setzen.

Zum Beispiel?

Das Klassenzimmer verlassen. Der Vorteil an Berlin ist ja, dass alles im Stadtraum erfahrbar ist: die Reste der Mauer, das Notaufnahmelager Marienfelde, das Alliiertenmuseum. Das eigene Erleben schafft Unmittelbarkeit: Wer einmal in Hohenschönhausen gewesen ist und mit einem ehemaligen Häftling gesprochen hat, vergisst das nicht. An Zeitzeugen und konkreten Orten mangelt es nicht. Problematisch ist an diesem Abschnitt der Zeitgeschichte eher, dass viele Lehrer zu wenig persönlichen Abstand haben. Die haben das selbst noch erlebt.

Bei Holocaust-Überlebenden gilt die Zeitzeugenschaft als wertvolles Plus. Warum nicht auch hier?

Authentizität ist wertvoll, natürlich. Aber wenn der Lehrer selbst eine einseitige, von persönlichem Erleben geprägte Sicht hat, schadet das der Vermittlung. Die sollte möglichst multiperspektivisch sein - man soll über Diktatur und Stasi-Opfer sprechen. Aber eben auch vom Alltag in der DDR. Das waren schließlich auch 40 Jahre gelebtes Leben für viele Mitbürger.

Wie erreicht man diese Multiperspektivität?

Guter Geschichtsunterricht spricht immer beides an: den Kopf und das Herz. Man muss also solides Grundwissen vermitteln. Und die Schüler erreichen. Indem man sie mit Zeitzeugen reden lässt, Ausstellungen besucht und Anknüpfungen zu aktuellen Debatten sucht. Auch ein Film wie "Good Bye, Lenin" kann dazu beitragen. Das Ziel ist jedenfalls, dass die SchülerInnen eine eigene Haltung zum Stoff entwickeln, sich berühren lassen.

Wie erreichen Sie Kinder, deren Eltern aus Regionen eingewandert sind, wo Kalter Krieg und DDR keine Rolle spielten?

Ich war 16 Jahre Schulleiterin an einem Weddinger Gymnasium - mit vielen Schülern nichtdeutscher Herkunft. Meine Erfahrung ist, dass sich alle Kinder gleichermaßen berühren lassen von einem Menschen, der von seinen Erfahrungen im Stasi-Gefängnis erzählt. Manche Themen sind universell.

Regelmäßig bescheinigen Studien Schülern große Wissenslücken über die Mauer und die DDR - viele wissen offenbar nicht, wer Honecker war. Was ist Ihre Erfahrung?

Sehen Sie, man kann den Jugendlichen nicht vorwerfen, damals nicht dabei gewesen zu sein und vieles nicht zu wissen. Das Kriterium kann ja kein umfassendes Wissen sein, sondern nur ein Grundwissen. Ob dazu gehört, Honecker zu kennen? Ich weiß es nicht. Nach 1968 haben wir Abschied von einem verbindlichen Geschichtskanon genommen. Viel wichtiger ist, den Jugendlichen einen eigenen Zugang zu gestatten, ohne ihnen dabei Haltung oder Emotionen vorzugeben.

Meinen Sie so etwas wie das Mauerfallspektakel 2009, als mehr als 1.000 von Schulklassen gestaltete Dominosteine zu Fall gebracht wurden?

Ohne intensive Vor- und Nachbereitung wäre es wirklich nur ein Spektakel gewesen. Aber mit der entsprechenden fachlichen Unterfütterung ist so etwas eine prima Sache. Man muss im Geschichtsunterricht weg von dieser Andächtigkeit und diesem Ernst. Auch ein leichter oder sogar humoristischer Zugang muss erlaubt sein.

Also nicht nur "das Leben der Anderen", sondern auch "Good Bye, Lenin"?

Warum nicht - solange das Thema noch aus anderen Blickwinkeln betrachtet wird, ist das okay. Obwohl das nicht alle so sehen. Als ich mit meinen Schülern zur NS-Zeit den Film "Das Leben ist schön" geguckt habe, fanden das manche Kollegen geschmacklos, für mich war es ein Beitrag zur Multiperspektive. Aber die ist für mich als gebürtige Berlinerin vielleicht selbstverständlicher als für andere.

Inwiefern?

Hier kriegt ein junger Mensch einfach mehr von Politik mit als woanders: Ich selbst habe den Aufstand 1953 mitbekommen, den Mauerbau, Kennedy vor dem Rathaus … Die letzten 60, 70 Jahre konzentrieren sich hier wie in einem Brennglas. Für den Geschichtsunterricht ist das eine Chance. Zumal die letzte Shell-Jugendstudie ergeben hat, dass sich junge Leute ab 13 wieder verstärkt dem politischen und gesellschaftlichen Geschehen zuwenden. Geschichte ist wieder in - wer hätte das gedacht?!

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