Wie ein Tier, das tötet

CHILE Pablo Larraíns Film „Tony Manero“ von 2008 handelt von einem Mörder, der ein Produkt der Pinochet-Diktatur ist. Das Arsenal zeigt „Tony Manero“ inmitten einer ganzen Reihe von neuen chilenischen Filmen

Großvater säße noch jetzt trinkend in der Kneipe, hätte ihn die Familie nicht abgeholt

VON EKKEHARD KNÖRER

Raúl geht ins Kino, um – zum man weiß nicht wievielten Mal –„Saturday Night Fever“ zu sehen. Seit Wochen schon übt er obsessiv für einen Tony-Manero-Fernseh-Tanzwettbewerb. Dass im Kino nun aber „Grease“ läuft, gefällt Raúl gar nicht: Er geht in die Vorführkabine, zerschmettert den Kopf des Vorführers am Projektor, nimmt noch das Geld aus der Kasse und entwendet die Rollen von „Saturday Night Fever“, um sie zuhause dann per Hand gegen das Licht ganz genau zu studieren.

Dies geschieht etwa zur Mitte von Pablo Larraíns im Jahr 2008 entstandenem Film „Tony Manero“. Da wundert man sich längst nicht mehr. Eine alte Frau hat Raúl zuvor schon ohne jede Regung erschlagen, des Farbfernsehers wegen, den er klaut. Vorher füttert er freilich noch ihre Katze. Raúl ist selbst wie ein Tier, das tötet, um seine Bedürfnisse zu stillen, ohne Lust, roh und stumpf. Die Kamera bleibt nah an ihm dran (man kommt nicht umhin, an die Dardenne-Brüder zu denken), das 16-mm-Filmmaterial ist körnig, schmutzig, unglamourös. Und einmal wird Raúl auch eine Weile trotzig fast in der Unschärfe gelassen. Man versteht’s, denn man hält ihn beim Zusehen kaum aus.

John Travolta sein

Raúl (von Alfred Castro unter dem Gefrierpunkt gespielt) ist ein Soziopath, ein Mann ohne den Hauch einer angenehmen Eigenschaft. Er ist 52 und seine John-Travolta-Imitation ist bestenfalls brauchbar – mit den Mitbewerbern der Fernsehshow hält er allerdings allemal mit und wird Zweiter. Der Film unternimmt es gar nicht erst, seine Hauptfigur psychologisch zu erklären. Wirklich Sinn ergibt sie nur im Rahmen der historischen Allegorie, auf die Larraín fraglos hinauswill. Wir befinden uns im Chile des Jahrs 1978, auf dem Höhepunkt der Pinochet-Diktatur. Das, so die klipp-und-klare These des Films, sind die Verhältnisse, die einen Mann wie Raúl hervorbringen – so impotent wie brutal, so mörderisch wie erfindungsreich beim Verfolgen seiner komplett sinnlosen Obsession.

„Tony Manero“ ist nicht nur ein sehr eigenständiges, sondern auch ein auf den internationalen Festivals stark beachtetes Werk, das viel dazu beitrug, die Aufmerksamkeit auf das Filmland Chile zu richten. Das Arsenal zeigt nun im September in einer Reihe mit zehn ganz aktuellen Filmen aus Chile, dass Filmfördergesetze, die Gründung von Filmschulen und die kulturelle Öffnung nach den in jeder Hinsicht finsteren Jahren der Diktatur inzwischen weltkinokompatible Früchte tragen. So arbeitet Alejandro Fernández Almendras in seinem Debütfilm „Huacho“ sein Porträt einer am Rand des Verhungerns lebenden Familie mit schöner Geduld und genauer Handkamera aus. In vier chronologisch parallelen Strängen folgt er den Mitgliedern dieser Familie durch einen Tag, der von nur bedingt erfolgreichen Anstrengungen, über die Runden zu kommen, geprägt ist.

Mit einem Stromausfall beginnt es. Die Mutter retourniert ihr neues Kleid im Kaufhaus in der Stadt, um Schulden bezahlen zu können. Die Großmutter kann ihren Käse kaum gewinnbringend verkaufen, weil die Milchpreise gestiegen sind. Der Sohn wird von seinen Klassenkameraden als „Bauer“ veräppelt und darf nicht mit der Playstation spielen. Der Großvater säße noch jetzt in der Kneipe und tränke, hätte ihn die Familie am Abend nicht abgeholt.

Die Darsteller sind allesamt Laien, das trägt zum Eindruck präziser Verortung in Raum, Zeit und sozialer Situation bei, den der Film vermittelt. Und doch ist gerade die weltkinokompatible Formsprache irritierend: Man kommt kaum darum herum, staunend zu sehen, welche Vielzahl an Nachahmerprodukten das Dardenne-Nahbeobachtungs-Trademark inzwischen weltweit ausbildet.

Das Licht des Himmels

Mehr der Natur als den Menschen scheint dagegen José Luis Torres Leiva zugeneigt: Der Titel seines Films „El cielo, la tierra y la lluvia“ („Himmel, Erde und Regen“) ist programmatisch gemeint. Und wie gleich zu Beginn einmal die Kamera einen Baum hinaufklettert, um durch die Zweige ins stille Licht des Himmels zu blicken, das ist schon grandios.

Die Erde, den Regen, das Gehen der Menschen auf matschigen Wegen: all das setzt Leiva hinreißend in Szene, in traumschönen Bildern, glasklar fotografiert und bei aller Strenge mit einem Sinn für Offenheit komponiert. Noch schöner wäre nur, es käme die Geschichte seiner passiven Hauptfigur Ana, die er in die Landschaft im gottverlassenen patagonischen Süden des Landes hineinerzählt, etwas mehr von der Stelle.

Eine Selbstfindungskomödie der sanften Art ist „Turistas“ von Alicia Scherson (eine der beiden in der Reihe vertretenen Regisseurinnen). Die studierte Biologin Scherson schickt ihre Heldin Carla in einer Ehekrise in einen Naturpark. Dort begegnet sie uralten Bäumen, freundlichen Vogelspinnen, allerlei Käfern und Männern. Den Artenreichtum des neuen chilenischen Kinos gibt es in den nächsten drei Wochen im Arsenal zu bewundern.