Zombieballett mit Hund

KLASSIKER Der Text hat keine Bedeutung mehr, aber muss doch gesprochen werden. Alvis Hermanis dekonstruiert an der Schaubühne am Lehniner Platz Gorkis „Sommergäste“ zu einem gespenstischen Zitat seiner selbst

Dieser hübsche, freundliche Golden Retriever, der den ganzen Abend anwesend sein darf, ist der dramatisch-philosophische Kontrapunkt zum Zombietum der Menschen

VON KATHARINA GRANZIN

Ein Raunen durchfährt das Publikum, als das Licht angeht. Im Halbdunkel haben wir bis dahin einer Frau zugesehen, die sich in offenbar unbefriedigter Lust auf einem Sofa wälzt. Und einen Mann konnten wir beobachten, der vergeblich versucht hat, sich an einer Handvoll verrotteter Elektrokabel aufzuhängen, bis, wie aus Versehen, mit einem Schlag viele Lampen aufflammen und aus der sehr dekorativ zerfallenen Kulisse eines ehemals herrschaftlichen Salons ein verzauberter Ort geworden ist.

Hinter halb blinden, halb zerbrochenen Fensterscheiben sind aus den Schatten weitere Räume aufgetaucht, in denen im Laufe des Abends immer wieder SchauspielerInnen schemenhaft wahrzunehmen sind, stumm im Hintergrund agierend. In lichter Höhe wird die Bühne begrenzt von einem grün bewachsenen Glasdach und einem gläsernen, umwucherten Laubengang, der ebenfalls als Aufenthaltsort wechselnder Personae des Stückes dient. Was für ein verwunschener Ort. Niemand tritt hier jemals ab; alle Personen sind, auch wenn gerade nicht an der Reihe, immer irgendwo vorhanden, geistergleich.

In so verfallener Umgebung kann kein echtes Leben existieren, und deshalb sind die Charaktere, die in Alvis Hermanis’ Inszenierung die Bühne bevölkern, höchstens untote Wiedergänger jener „Sommergäste“, die Peter Stein 1974 in einer legendären Inszenierung in der Bearbeitung durch Botho Strauß auf die Bretter der Schaubühne brachte. Ihre Aktionen, ihr Reden sind nur mehr ein Reflex, die zombiehafte Nachahmung echten Dialogs, echten Denkens, echten Fühlens. Hermanis trennt gleichsam die Worte von ihrer Bedeutung. Gorkis Menschen sprechen hier so, als probierten sie mit dem über hundert Jahre alten Text verschiedene Posen aus – als wüssten sie selbst, dass das, was sie sagen, nichts mehr mit ihnen zu tun hat. Es ist alles egal, aber dennoch muss es gesagt werden. Auch Gorkis Dramentext gehört zu den Untoten.

Das ist zunächst nicht leicht zu schlucken. Denn wenn die Worte so gesprochen werden, als hätten sie keine Bedeutung mehr, fällt – und das ist das Befremdliche, denn man versucht es ja dennoch – gleichzeitig die Notwendigkeit fort, ihnen bedingungslos zu folgen. Den SchauspielerInnen fordert dieses Konzept ein hochgradig stilisiertes Spiel ab. Die Uneigentlichkeit des Sprechens geht mit einer szenischen Umsetzung einher, die weitestmöglich abstrahiert von der ursprünglich vorgesehenen Handlung. Während die Personen bei Gorki irgendwann picknicken gehen und noch bei Stein/Strauß ein Birkenwald die Bühne schmückte, verlassen Hermanis’ Gespenster nie das verfallene Datscheninterieur. Dieses Picknick sei so langweilig, klagt die Frau des Ingenieurs, während alle Frauen in historischer Unterwäsche auf dem Sofa fläzen und sich gegenseitig über die Haare streichen.

Es besteht eine sich konsequent durchziehende Diskrepanz zwischen Sprechen und Handeln der Figuren. Im Grunde ist ihr Agieren eher choreografiert als inszeniert, die Beziehungen zwischen ihnen sind gefasst in lebende Bilder wie in einer müden Scharade oder einem seltsam bewegungsarmen Tanztheater. Bizarre Pas de deux deuten Paarbeziehungen an, wie die verhärtete Ehe des Arztes und seiner Frau, die sich, beide behängt mit mehreren Stühlen, gegenseitig hoffnungslos in deren Beinen verhaken, während sie darüber hinweg einen bitteren Dialog führen. Der Ingenieur, seine Frau und ihr Liebhaber bilden eine Art gymnastisches Dreieck. Und als am einen Ende der überbreiten Panoramabühne der versuchte Selbstmord des armen Rjumin verhandelt wird, werden am anderen Ende Würstchen in der Badewanne gegrillt – dem einzigen Ausstattungsstück außer dem Sofa –, was schon deswegen ungleich mehr fesselt, weil der Hund daran ein so lebhaftes Interesse zeigt.

Dieser hübsche, freundliche Golden Retriever, der den ganzen Abend anwesend sein darf und dessen Name sich im Programmheft nicht verzeichnet findet, ist der dramatisch-philosophische Kontrapunkt zum Zombietum der vorgeführten Menschen. Denn ganz offensichtlich ist er, oder sie, das einzige wirklich lebende Wesen auf der Bühne, wirkt dabei völlig zufrieden und unbeeindruckt von der Umgebung und führt ganz unprätentiös vor, dass allein die Wurst wirklich von Bedeutung ist. Braver Hund. Aber es bleibt die Frage: Wenn alles nichts bedeutet, was machen wir dann hier? Wieso Theater? Warum Gorki? Und wäre es wirklich so viel schöner, ein Hund zu sein?