In der Wohlfühlhölle

THEATER I Was passiert, wenn zu viele Individualisten das Gleiche wollen? Davon erzählt das Stück „Alltag & Ekstase“, das die junge Regisseurin Daniela Löffner am Deutschen Theater inszeniert

VON SIMONE KAEMPF

Erst wirken sie wie vier ganz normale Mittelstandsindividualisten auf der Suche nach Selbstverwirklichung. Die Mutter baut sich ein Landhaus. Vater Günther zelebriert die Rituale fremder Kulturen – guineische Stammesrituale bis japanisches Teeeinschenken – so kritiklos, dass es fast wehtut. Schwiegertochter Katja lebt sich mit wechselnden Männern aus, während Sohn Janne prinzipiell alle Konventionen ablehnt.

Dann aber platzt ein japanischer Gast in ihre Wohlfühlhölle, einer, der mit seiner Vorliebe für deutsche Bräuche, deutsches Bier, schwule Männerklubs für Verwirrung sorgt. Wodurch sich nach und nach offenbart, dass die Arbeit an der eigenen Einzigartigkeit nicht nur vergeblich ist, sondern auch schmerzhafte Erkenntnisse in sich birgt. Was, wenn ein jeder sich dort, wo er besonders individuell zu sein meint, rollenkonform verhält?

Es ist spannend und hat etwas von Slapstick, wie die Regisseurin Daniela Löffner die Sinnsucher in Rebekka Kricheldorfs neuem Stück „Alltag & Ekstase“ am Deutschen Theater mit Fleisch und Blut füllt. Wie sie deren Tiraden psychologisch anpackt, die karikaturenhaften Überzeichnungen mit Empathie verbindet. Oder aberwitzige Szenenwechsel vom Himalaja auf eine Blumenwiese mit Licht- und Musikwechsel so atmosphärisch gleitend hinzaubert, dass wie nebenbei klar wird, warum sich die großen Theater in Berlin, Zürich oder München längst für die Nachwuchsregisseurin interessieren.

In einem schlichten Sperrholz-Bühnenoval zelebriert Löffner diesmal auch eine überraschende Lust an folkloristischer Verkleidung. Nicht nur, dass Südseeröckchen zum Einsatz kommen. Ein richtiges bayerisches Volksfest mit Lederhosen und Bockshornmasken wird inszeniert, bei dem der Japaner dem deutschen Sohn mithilfe bewusstseinserweiternder Pilze zu einem Rausch verhilft. Einem kurzen zumindest, denn bald funkt wieder das schlechte Gewissen dazwischen. Weil das Bier nicht regional ist, das Wegwerfbesteck die Umwelt belastet, die Wurst nicht von glücklichen Schweinen stammt. Serviert der Vater Marzipantotenköpfe, kritisiert die Mutter den Industriezucker und der Sohn den Ethnokitsch – er, der Janne getauft wurde, um ihm Genderkonvention und normierte Zwangsmaskulinität zu ersparen.

Autorin Kricheldorf hat ein gutes Händchen für die Absurditäten des Daseins. Die Suche nach einem Platz in der Welt konfrontiert sie mit gegenwartsbezogenen Motiven: Ökobewusstsein, aber auch hier die Konsensgesellschaft, die alles analysiert, bespricht, austherapiert, für jedes Problem einen Kurs anbietet.

„Schweigen ist die Mutter der Neurose“, sagt etwa Vater Günther, von Harald Baumgartner als verschusselter Kimonoträger gespielt, der in seiner Fixiertheit auf fremde Kulturen übersieht, was in nächster Nähe passiert. Judith Hofmann spannt Mutter Sigrun zwischen blinden Eigensinn und einfühlende Nachhaltigkeit. Ihr Wollpullunder wirkt wie ein Relikt aus den 70er Jahren, genauso wie ihr Hang, alles auszudiskutieren. Was nicht vor emotionaler Vernachlässigung schützt. Denn ein solches Ergebnis sitzt die ganze Zeit stumm mit auf der Bühne: die Enkelin namens River, eine Pubertätsausgeburt in rosa Turnschuhen, die ihre Finger nur vom Handy lässt, um Süßigkeiten zu futtern oder einem Stofftier mit Hochgenuss die Augen auszubohren.

Hätte da jemand mehr mit dem Kind sprechen müssen? Ernsthaft darüber nachdenken mag man allerdings nicht. Dazu kippt das Teenagerbild dann doch zu stark in die Karikatur. Das Tableau der Deformationen wirkt zwischendurch so breit, dass man es wie einen Scherz nimmt, was als durchaus ernsthafte Botschaft durchklingt: Rausch und Ekstase sind ein urmenschliches Bedürfnis, dem man ab und zu nachgeben sollte.

Ihre ernsthafte Rahmung findet die Inszenierung auf überraschende Weise: Mit einer Erzählung von 200 Bergsteigern, die im Stau am Mount Everest festhängen. Rivers Lieblingsziehvater ist dabei gestorben, mit ihm neun weitere Menschen. Zu viele Individualisten wollten zur selben Zeit das Gleiche. Ein abgründiges Bild für die Austauschbarkeit der Einzigartigkeit.

■ Wieder am 23. und 28. 1., 20 Uhr