SELBSTMÖRDERFRIEDHOF
: Ein Erbarmen

Wir wollen zu Nico, der Femme fatale von Velvet Underground

Im Grunewald habe ich schon nach drei Minuten den Eindruck, wir werden uns bis zu einem hexenbewohnten Weltkriegsbunker verlaufen, doch dann fährt sofort ein Radlerpaar in derart engen Hosen vorbei, dass die Vögel auf den Ästen ringsumher vor Schreck das Zwitschern einstellen. Irgendwann ist man dann an der Havel oder so, dort liegen Boote und eine Straße, da fahren BVG-Busse lang, die 25 Jahre alt sind und deswegen als „urberlinerisch“ angepriesen werden. Nach einer Station weiß man, warum Orthopädie heute ein einträgliches Geschäft ist.

Wir wollen zu Nico, der Femme fatale von Velvet Underground. Sie liegt auf dem Friedhof Grunewald Forst, dem sogenannten Selbstmörderfriedhof. Den findet man, geht man durch den Wald und biegt an irgendeiner Weggabelung links ab.

Hinter einem kleinen Holztor liegen zugewachsene Familiengruften und Kriegsgräber. Es stellt sich heraus: Das ist gar kein reiner Selbstmörderfriedhof, hier wurden nur relativ viele Selbstmörder begraben. All jene zum Beispiel, die sich aus Verzweiflung in die Havel geschmissen haben und dann ums Eck angeschwemmt wurden. Im 19. Jahrhundert war es nicht üblich, Selbstmörder in geweihter Erde zu begraben, aber irgendwo mussten die Leichen ja hin, da hatte man hier ein Erbarmen. Als herauskam, dass es im Grunewald eine Grabstätte gibt, die Suizidäre bettet, gingen einige extra hierher; damit die Verwandtschaft weniger Scherereien hat.

Wir laufen viermal im Kreis, bis wir Nicos Grab finden. Fans haben in einem Glaskästchen Nachrichten hinterlassen, einer hat ein Smiley auf ein BVG-Ticket gemalt, wohl das Analogäquivalent zum Like bei einer Facebook-Todesnachricht. Sonst ist viel von Inspiration die Rede.

Auf dem Rückweg bin ich sehr enttäuscht, dass das Grab von Herrn Wilhelm Rupf völlig zugewuchert ist. FRÉDÉRIC VALIN