HEINRICH ZILLE WAR SEHR BELIEBT, DAS SCHÜTZTE IHN NICHT DAVOR, MISANTHROP ZU WERDEN
: Das dunkle Berlin

JÖRG SUNDERMEIER

Heinrich Zille ist in Berlin überaus bekannt. Kaum eine Berliner Kneipe, die behauptet „urig“ zu sein, kommt ohne ein Zille-Bild oder eine Statuette aus, die den Künstler beim Zeichnen zeigt. Wir alle wissen, wie er aussah – klein, knollennasig, vollbärtig, den Zigarrenstummel im breiten Maul, immer leicht gekrümmt dastehend, immer zeichnend. „Vater Zille“ nannte man den Künstler schon zu Lebzeiten, es gab Zille-Bälle und Zille-Kneipen auf und in denen der „Pinsel-Heinrich“ selbst als lebende Legende auftrat, sein Leben wurde mehrfach auf die Bühne gebracht und verfilmt.

Im Nicolaiviertel gibt es ein Zille-Museum, in Charlottenburg eine Zille-Straße, vor dem Märkischen Museum findet sich ein Zille-Denkmal. Hört man den Namen Zille, hört man gleich im inneren Ohr das Wort „Milljöh“, man denkt an verkommene Hinterhöfe und dickliche leichte Mädchen, an rotzfreche Kinder und an Molle und Korn.

Nun ist eine Biographie Heinrich Zilles erschienen, die klar macht: Heinrich Zille ist nur dem Namen nach bekannt. Wer oder was er genau war, weiß man kaum mehr, zu sehr hat das, was Zille selbst noch gar nicht als „Image“ hätte bezeichnen können, das überdeckt, was er eigentlich war.

Es beginnt bereits mit seinem Geburtsort. Wie seine Biographin Nicole Bröhan zeigt, ist Zille nämlich „ein echter Berliner aus Sachsen“, geboren 1858 in Radeburg. Erst als Zille neun Jahre alt war, zog die Mutter mit ihm und seiner Schwester nach Berlin, der Vater saß zu der Zeit wegen Überschuldung im Gefängnis. Zille wurde Lithograf und blieb es über dreißig Jahre lang, nebenher belegte er auf eigene Kosten Kunstkurse. Bröhan verschweigt nicht, dass Zille die Kunst nicht eben zugefallen war, sein Strich war zunächst schwerfällig und er hatte keinen guten Blick für Dimensionen. Das, was er später scheinbar leichthin aus der Hand schüttelte, musste sich der junge Lithograf mühsam erarbeiten.

Zille heiratete 1883 und lebte mit seiner Frau und den bald geborenen Kindern zunächst in einem Kellerloch in Rummelsburg. Er entdeckte früh die Fotografie für sich und konnte einige wenige Bilder verkaufen, auch gelang es ihm erste Kontakte zu anderen Künstlern zu knüpfen. Doch sein Brotberuf und seine Sparsamkeit ermöglichten es ihm, dass er bald nach Charlottenburg in die Sophie-Charlotten-Straße 88 ziehen konnte, dort lebte er von 1892 bis zu seinem Lebensende im Jahr 1929.

Um die Jahrhundertwende herum gelingt es Zille nun immer öfter seine Zeichnungen zu veröffentlichen, er wird in die Ausstellungen der Berliner Secession aufgenommen, er gilt als Zeichner der grausamen Realität, als Naturalist und selbstredend als Linker. Denn der Kaiser höchstselbst ist es, der alle Kunst bekämpft, die „in den Rinnstein niedersteigt“. Bemerkenswerterweise sagte der Monarch dies übrigens in einer Rede zur Eröffnung der „Siegesallee“, in der seine Vorfahren und deren Hofstaat als Statuen ausgestellt wurden, für eine Figur hatte dafür ausgerechnet Zille Modell gestanden.

Zille liebte es, das „dunkle Berlin“, wie er es nannte, abzubilden. In seinen Fotografien aus dem Alltagsleben ebenso wie in seinen Bildern. Aber Zille wurde erst zu „Vater Zille“, da er seinen Brotberuf verlor. Nun zeichnete er für Illustrierte als typisches Berliner „Orijinal“, seine Kritik wurde flacher, sein derber Humor oft zu Kalauerei, genau das aber machte Zille erst richtig populär.

Er wurde mit Ehrungen überschüttet, genoss den Ruhm, fühlte sich aber zugleich missbraucht. Die düsteren Szenen, um die es ihm eigentlich ging, konnte er immer seltener absetzen, die kessen Bilder dagegen sehr. Äußerst beliebt und vereinsamt schließlich starb der Maler als halber Misanthrop. Diese Zille-Geschichte ist, wie gesagt, kaum bekannt.

Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher Verlags

■ Nicole Bröhan: „Heinrich Zille. Eine Biographie“. Jaron Verlag, Berlin 2014, 176 Seiten, 9,95 Euro