Fast ortlose Klänge

Ab wann ein Musiker als Berliner Musiker gelten kann, ist so eine Sache. Einerseits sind die Grenzen durch die allgemein gewachsene Beweglichkeit heute unschärfer geworden, andererseits pflegen Musiker oft ein Nomadenleben, bei dem ein bestimmter Wohnsitz nur bedingt Auskunft über deren lokale Zugehörigkeit gibt.

Der Produzent Lee Gamble ist Brite mit Wohnsitz in London, hat aber enge Bindungen zur Berliner Elektronikerzunft und ist oft in der Stadt zu erleben. Sein Label Pan hat hier ebenfalls seinen Sitz und wird betrieben vom in Griechenland geborenen Musiker Bill Kouligas, der neben Berlin in New York tätig ist.

Die Stile des Labels reichen von Neuer Musik bis zu Clubexperimenten, Lee Gamble lässt sich grob in letztere Kategorie einsortieren. Sein jüngstes Album, „Koch“, arbeitet gelegentlich mit geradlinigen Beats, zu denen man sich bewegen kann, wobei die Synthesizerelemente, die er hinzumischt, eine seltsam introspektive Stimmung verbreiten, so als solle gar nicht getanzt werden oder höchstens mit gesenktem Kopf und ganz kleinen Schritten. An anderer Stelle lässt er den Drumcomputer ausgeschaltet und gestattet seinen Schwebeklängen großzügig Auslauf. Am spannendsten wird es immer dann, wenn er seine Elektronikforschungen fern von Genrezuweisungen betreibt, um rumpelnde Rhythmik und abstrakte mäandernde Figuren sich scheinbar selbst überlässt. Doch selbst da, wo es vermeintlich bloß zerebral zugeht, zielt die Musik von Gamble immer zugleich auf den Körper, vielleicht nicht auf direktestem Wege, aber spürbar.

Den Balanceakt zwischen unmittelbarer Körperansprache und Klangkunst hat auch das Berliner Label Stroboscopic Artefacts zu seinem großen Thema gemacht. Fünf Jahre schon belebt die Plattenfirma von Luca Mortellaro alias Lucy die ästhetisch oft stagnierende Technoproduktion und erneuert das Projekt Intelligent Dance Music, die sich in der Regel wenig um Fragen der Tanzbarkeit kümmert. Sein Jubiläum begeht das Label mit einer Serie von fünf EPs: „V – Five Years Of Artefacts“. Das erste Kapitel versammelt eindeutig tanzbare Beiträge der Produzenten Rrose, Perc, Pfirter und Lakker. Mal mit reichlich Dub-Hall, mal mit trockenen, metallischen Effekten, mal abgründig strudelnd und mal mit hektischen Stimmfetzen über bösem Brummen – aber ohne sich mit reinem „Funktionieren“ zufrieden zu geben.

TIM CASPAR BOEHME

■ Lee Gamble: „Koch“ (Pan), V.A.: „V – Five Years Of Artefacts – Chapter One“ (Stroboscopic Artefacts/Word and Sound)