WIR:HIER

Kapitel 18

Laura fuhr nach der Bibliothek zu ihrem Job im Mieterverein. Es war nicht viel los, nur zwei Kunden kamen zur Sprechstunde, danach Regale aufräumen, Infoblätter nachlegen und putzen, das Übliche.

Zu Hause war die gereizte Stimmung der vergangenen Tage verflogen, sie waren fast unmerklich zum Normalfamilien-Modus zurückgekehrt. So war es jedes Mal, erst eine Wahnsinnsaufregung, tierischer Streit und dann – Ruhe, Zufriedenheit, Alltag. Als müsste man sich erholen und Kraft für den nächsten Crash sammeln.

Während des Abendessens verkündete sie, dass sie am Ende der Saison mit dem Handball aufhören würde. „Mir wird das zu viel. Wenn wir aufsteigen, haben wir zweimal pro Woche Training und an den Wochenenden zusätzlich die Wettkämpfe.“ Sie wollte sich erklären, ihren Eltern beweisen, dass sie ernsthafte Gründe hatte, aber das war gar nicht nötig, beide reagierten gelassen. Fast zu gelassen für Lauras Geschmack. Immerhin war sie seit über vier Jahren Handballerin. „Das ist deine Entscheidung“ und „Du hast es dir bestimmt gut überlegt“, sagten sie und Laura nickte in ihren Pudding.

Es war eine merkwürdige Sache: Auf jeden großen Krach folgte eine unerwartete Lockerung, als wäre das ein heimliches Eltern-Gesetz, dessen Regeln Laura aber nicht ganz durchschaute. Als sie wegen einer Flatrate zum x-ten Mal nervte, erhielt sie aus heiterem Himmel ein monatliches Budget für Klamotten, und nachdem sie dreimal hintereinander richtig fett zu spät nach Hause gekommen war, durfte sie mit einer Freundin für vier Tage nach Rom reisen. Und jetzt, kaum war dieser bescheuerten Hausarrestblues ausgestanden, akzeptierten sie ohne viel Gewese ihre Handball-Entscheidung.

Nach dem Essen übte sie für Mathe, räumte das Zimmer auf, bezog das Bett neu, lackierte ihre Nägel, trug eine Haarkur auf, duschte lange, zog den alten Lieblings-Pyjama an und legte sich ins Bett. Laura liebte den Geruch frischer Bettwäsche und den kühlen, glatten Stoff, dazu die klare Ordnung ihres Zimmers, nichts lag rum, alles war sauber und übersichtlich – so mochte sie es am liebsten. Zufrieden stopfte sie sich zwei Kissen in den Rücken und griff nach dem Stapel Bücher aus der Stabi. „Die Kapitulation von Berlin“, „U- und S-Bahn 1890–1980“, „Baugeschichte von historischen Bahnhöfen“. Ein Bildband, aufgenommen kurz vor Kriegsende, gefiel ihr besonders. Bombenschäden, zerstörte Häuser, endlose Ziegelwüste, Straßen mit brennenden Panzern, die von den vielen Menschen auf dem Bild keines Blickes gewürdigt wurden, so etwas fand sie schon immer faszinierend. Wenn sie beispielsweise die Aufnahmen des in Flammen stehenden World Trade Center sah und wusste, was gleich passieren würde – die Türme stürzen ein und reißen Tausende Menschen mit in den Tod –, musste sie trotzdem denken: Geil! Das sieht so geil aus. Zerstörung hatte eine eigene Schönheit in Lauras Augen.

Sie durchblätterte das Buch, las quer, auf der Suche nach Absätzen über den Anhalter Bahnhof. Hängen blieb sie bei einer anderen Geschichte über den Innsbrucker Platz. Dort, wo sie, seit sie laufen konnte, jeden Tag vorbeikam, einkaufen ging, auf den Bus wartete oder in die U-Bahn stieg, dort gab es einen toten Bahnsteig unter dem eigentlichen U-Bahnhof. Oder besser gesagt daneben. Auf der gleichen Ebene wie die Linie 4 liegt der Rohbau eines nie eröffneten Bahnhofs einer nie zu Ende gebauten ominösen Linie 10. Die Planungen für die neue Linie hatten sich zerschlagen, waren zu teuer und der bereits fertige Bahnhof wurde einfach abgeschlossen und vergessen. Das würde sie sofort Matteo erzählen.

Als sie am nächsten Morgen zur Schule lief, schaute sie die vertraute Gegend mit anderen Augen an. Ich laufe auf Toten, dachte sie. Hier klebt Blut von Tausenden Leichen. Tote Pferde, tote Häuser, Verletzte, Obdachlose, Verrückte, brennende Ruinen, Bombentrichter und dazwischen die wenigen Juden, die es geschafft hatten, sich jahrelang in Berlin zu verstecken. Sie sah Kinder ohne Eltern, Fahnenflüchtige, Ausgebombte und versprengte Reste vom Volkssturm durch die Straße irren. Und Sirenen, die die ganze Zeit heulen, Luftschutz-Sirenen. Das Blut ist längst versickert und düngt die Straßenbäume. Trotzdem ist alles noch da, wenn man genau hinsieht. Sie blickte in den Gipfel der nächsten Kastanie und hätte sich nicht gewundert, wenn da oben ein zerlumptes Skelett gehockt und ihr zugewinkt hätte. Und unter dem Blut, den Knochen, dem Schutt schlummert ein zweites Berlin, eines, das aus chaotisch verlaufenden Tunneln besteht. Laura wurde die Vorstellung der im Tunnel des Anhalter Bahnhofs Ertrunkenen nicht mehr los, und in Kombination mit der Musik im Kopfhörer, Mahlers Fünfte, fühlte sie sich wie in einem Zombie-Splatter-Film.

Sie hatten zwischen der 6. und der 10. Klasse mindestens dreimal das Thema Nationalsozialismus durchgenommen, das Holocaust-Denkmal und das Jüdische Museum besucht, sie hatte Filme aus den KZ gesehen und Zahlenkolonnen von Toten, aber nie war ihr so bewusst, dass das alles hier, genau hier, wo sie im Moment lief, geschehen war. Dass diese Häuser noch vor ein paar Jahren voller Einschusslöcher vom Endkampf gezeichnet waren und vielleicht im Keller ihres Hauses ein jüdisches Mädchen versteckt worden war oder in ihrer Wohnung, in ihrem Zimmer, ein linientreuer Nazi gewohnt haben könnte.

In der Schule sah sie Matteo nur kurz, sie hatten heute keine gemeinsamen Kurse. „Ey, ich bin total geflasht von dem ganzen Tunnelscheiß. Du auch?“

„Aber hallo! Wann sehen wir uns?“

„Wochenende? Ich sims dir.

Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de