Kolumne von Mathias Greffrath: Besuch vom Sensenmann

Ein Herr in meiner Küche redete mir ins Gewissen: Nicht als Pflegefall an den Schläuchen soll ich enden, sondern selbstbestimmt. Dann bliebe noch Geld fürs Erbe übrig - ein Albtraum vom Altern.

Es klingelte. Vor der Tür stand ein Herr im schwarzen Anzug, knapp sechzig, die rotblonden Haare gescheitelt, kleiner Bart, ohne Krawatte, und fragte freundlich: "Haben Sie schon einmal über den Sinn Ihres Lebens nachgedacht? Und über das, was danach kommt?" Noch bevor ich sagen konnte: Danke nein, ich bin nicht erlösungsbedürftig, lächelte er sanft: "Keine Angst, ich bin kein Zeuge Jehovas, und es geht auch nicht ums Jenseits." Sondern? "Um die große Krise, von der die Finanzkrise ja erst der Anfang ist und nach der nichts mehr so sein wird, wie es war. Weswegen wir nach ganz neuen Lösungen suchen müssen." Und da ich auch dieser Meinung bin und weil es noch sehr früh war und sich meine Abwehrkräfte noch nicht in Tagesform befanden, bat ich ihn herein.

"Wir sind da ja in mehrere Fallen gleichzeitig gerutscht", dozierte er, während ich Kaffee aufsetzte, "vom Wachstum über die Beschäftigung bis hin zu den Gesundheitskosten." Er legte ein paar glanzfolienkaschierte Statistiken auf den Tisch: über Wachstumsraten, die Relation von Aktiven und Rentnern, über die Arbeitslosigkeit und schließlich die Lebenserwartung. "Wir werden zwar länger leben als alle Generationen vor uns", fasste er zusammen, "sind aber auch die erste, die ihre Kinder mit der Wahrheit konfrontieren muss, dass es ihnen schlechter gehen wird als uns."

Taxierend ließ er seinen Blick über meine Bücherregale und das Mobiliar wandern und setzte hinzu: "Und immer weniger von uns sind in der Lage, ihren Kinder oder Enkeln wenigstens eine Starthilfe zu geben." Er deutete auf das Balkendiagramm über die Zunahme der Alzheimer-, Parkinson- und Demenzfälle von 2001 bis 2050. "Und die schlimmste Fortschrittsfalle", sagte er sanft und blickte mich mit leicht wässrigen Augen an, "ist ja vielleicht dieses lange Leben, oder sagen wir lieber: dieses quälend verlängerte Sterben. Die Heime sind jetzt schon voll mit Menschen, die ihre Existenz als eine doppelte Last empfinden: das eigene Dahinschwinden und die Scham, nur noch eine Last zu sein. Auch das ist ja ein Grund für die schändlichen Vorstöße fragwürdiger, ausschließlich profitorientierter Sterbehilfeunternehmen."

"Kusch", sagte ich, "Roger Kusch." Und er: "Genau. Schlimm, nicht wahr, aber der konnte ja noch einmal gestoppt werden." Er blickte auf die Uhr, und was er nun sagte, klang wie oft geübt: "Unser Projekt ,Neuer Generationenpakt' setzt deshalb genau hier an. Es antwortet auf zwei Notlagen, die sich aus der Globalisierungs-, der Individualisierungs- und der Methusalemfalle ergeben: die Furcht vor einem unwürdigen Lebensende und die Sorge um die Zukunft der Kinder. Die Grundidee ist folgende: Sie, Herr Greffrath, entscheiden sich, nicht als Pflegefall und an Schläuchen zu enden, sondern ihren Ausgang selbst zu wählen. Damit reduzieren Sie die Kosten, die Sie als Senior der Gesellschaft auferlegen. Die ersparte Summe wird, jedenfalls zu großen Teilen, den jüngeren Mitgliedern Ihrer Familie gutgeschrieben: zur Existenzgründung, zum Erwerb einer Immobilie oder einer Rente, die das staatliche Mindesteinkommen - das ja kommen wird - aufstockt.

Die Höhe der Summe bemisst sich nach einem Schlüssel, der die durchschnittliche Lebenserwartung ebenso berücksichtigt wie Ihren individuellen Gesundheitsstatus. Keine Gleichmacherei, weshalb auch allein Sie über die Auszahlung der Solidaritätsprämie entscheiden: an einen Verwandten oder Freund, oder falls beides nicht vorhanden, was ja in Ihrem Fall (er blickte kurz auf seinen Notizblock) nicht der Fall ist, an eine Stiftung zugunsten von Behinderten, Arbeitslosen, Künstlern etc."

Ich schielte auf seine Aktenmappe. In ihr Kunstleder war die Leonardo-Grafik des vermessenen Menschen geprägt, die gleiche wie auf der Chipkarte meiner Krankenkasse. Ich blickte den Mann im schwarzen Anzug fragend an. "Das wärs eigentlich schon", lächelte er, "unser Ziel ist es, die kommende Geschäftemacherei mit dem Tod wie auch die bürokratische Fürsorge durch eine erfahrbare, individualisierte Solidarität zwischen den Generationen zu überwinden. Proaktiv."

Er griff in seine Mappe und zog eine Tabelle heraus: "Die Kosten für zwei Jahre in einem halbwegs komfortablen Pflegeheim betragen zurzeit ca. 72.000 €, dann wäre da die medizinische Intensivversorgung im letzten halben Jahr, rund 100.000 €, dazu Leistungen der gesetzlichen Rente von durchschnittlich 18.000 € pro Jahr. Wenn Sie nun als Seniorpartner in unseren New Deal der Generationen eintreten und aufgrund der Ergebnisse des Gesundheitschecks" (er nickte zu dem gut gefüllten Aschenbecher hinüber) "mit einer, sagen wir, Lebenserwartung von 82 Jahren rechnen können und nun einwilligen, im Alter von, na, 75 Jahren abzutreten, ergäbe sich dadurch eine Ersparnis von 72.000 + 100.000 + 126.000, macht in der Summe rund 300.000 €. Schon mit der Hälfte dieser Summe…"

Das mit den Zahlen hätte er nicht machen sollen, der Herr im schwarzen Anzug. Denn in Zahlen konnte ich noch nie träumen. Während ich mich also langsam aus dem Bett rollte und den Kaffee, diesmal real, aufsetzte, fiel mir Kurt Biedenkopf ein, der mir vor 15 Jahren in einem Interview sagte, er sehe da eine gigantische Euthanasie-Debatte auf uns zukommen. Ich musste an den Mordfall denken, von dem ein Bekannter neulich erzählt hatte, bei dem ein Rentner von seinen Kindern umgebracht worden war, weil sie nicht mitansehen konnten, wie ihr Erbe für die Heimpflege draufging, und an die wahnwitzigen Euthanasie-Vorwürfe gegen Obamas Gesundheitsreform und an den alten Film "Soylent Green".

Und natürlich an das Gespräch vom Abend vorher, mit lauter Leuten, die seit Jahren von der Alten-WG reden, aber sie nicht zustande bringen wegen ihrer hohen Individualisierungsgrade, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen, aber wenig zu vererben haben, die selbstbestimmt sterben wollen, aber zweifeln, ob sie dazu die Kraft haben. Wir müssen, so steht es jetzt überall, darüber reden, wie wir in Zukunft leben wollen. Aber auch darüber, wie wir sterben wollen, sonst wird sich auch das so verändern, wie wir es nicht wollen. Natürlich muss dabei gerechnet werden. Sehr wach. Sonst rechnen diese Edgar-Allan-Poe-Gestalten aus unseren Albträumen.

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