Kolumne Über Ball und die Welt: Emil und die Direktive

Weil er sich öffentlich für Soccer und gegen American-Football aussprach, gilt der 17-jährige Emil Cohen in Kanada als Fußballrevoluzzer. Recht so!

So beginnen Revolutionen. Dutzende von kanadischen Schülern sind Ende November auf die Straße gegangen. Sie solidarisieren sich mit Emil Cohen. Der 17-Jährige ist Mitglied der Schulfußballmannschaft der Northern Secondary School in Toronto und hatte auf einer Schulversammlung eine Rede gehalten: "Dieses Jahr hat die Fußballsaison alle Erwartungen übertroffen", fing Cohen an, aber gemeinerweise werde das American-Football-Team seiner Schule viel besser unterstützt. Sein Soccer-Team hingegen habe nicht mal annähernd so viele Trainingsmöglichkeiten.

Eine aufrührerische Rede - zumindest wenn man sie nach den Reaktionen beurteilt. Cohen kam nicht dazu, sie zu Ende zu führen. Er wurde von der Bühne geleitet, und der Oberschüler hatte sich im Büro des Direktors einzufinden: zwei Tage Schulverbot und Suspendierung von der Schulmannschaft!

Cohens Kritik an der mangelnden Fußballförderung ist offensichtlich ein schlimmes Vergehen. Vor irgendetwas scheint man in der Northern Secondary School Angst zu haben. Und es fällt sehr schwer zu glauben, dass es die Angst vor einem neuen Satz Fußballtrikots ist. Vielleicht ist es die Ahnung, dass der europäische und südamerikanische Fußball mehr ist als eine Veranstaltung, bei der 22 Leutchen in kurzen Hosen hinter einem Ball herlaufen.

Vergegenwärtigt man sich, dass kurz vor Emil Cohens vermeintlich schlimmer Revoluzzerrede beim FC Toronto, dem örtlichen Profiklub, der in der Major League Soccer spielt, ein europäischer Fußballexperte namens Jürgen Klinsmann als Berater angeheuert hat, dann ist Vorsicht geboten. Man geht wohl nicht fehl in der Vermutung, dass die Repressalien gegen Cohen aus Angst vor einer Europäisierung des Soccer gespeist sind: dass dieser Sport nicht mehr von liberalen Middleclass-Familien geprägt wird, sondern von Hooligans, saufenden Fanhorden, Schlägern und Sängern unsittlicher Lieder.

Europäisierung hieße auch: Proletarisierung. Das Fußballstadion, wissen Fans und Sportsoziologen gleichermaßen, ist ein besonderer Freiraum. Hier darf gebrüllt werden, was woanders geahndet wird. Der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt drückt es so aus: "Dann gehts zu den Schlachtfeldstätten / um im Geiste mitzutreten / mitzuschießen, mitzustechen / sich für wochentags zu rächen / um im Chor Worte zu röhren / die beim Gottesdienst nur stören."

Die geröhrten Worte sind nicht nur Rassismen, Sexismen und anderes schlimmes Zeugs. Das ist auch schon mal ein herzliches "Jogi, du Arschloch", wenn der vermeintliche Pöbel mit der ein oder anderen Entscheidung des Bundestrainers nicht einverstanden ist. Im Stadion sitzen eben nicht nur "Schinkenspeckgesichter", die "lachen / treuherzig, weil Knochen krachen", wie Degenhardt mit altlinker Arroganz sang. Da ist manchmal auch etwas Subversives.

Autoritäre Regime wie das der Mullahs im Iran wissen das: Der Zutritt zum Stadion wird reglementiert, Frauen etwa dürfen gar nicht rein. Und die das Regime am heftigsten erschütternden Demonstrationen gab es bislang in den großen Stadien Teherans. Beispiele aus anderen Ländern ließen sich beinah ohne Ende anbringen.

Und immer ist es der Fußball, der die Lust an der Rebellion gebiert - auch in Zeiten von Champions League und Sepp Blatter. Immer ist es dieser Sport, der erst aus einer Mischung von individueller und kollektiver Fähigkeit Großes zu schaffen versteht. Vielleicht, gewiss sogar, ist es ungerecht, das Direktorat der Northern Secondary School mit den iranischen Mullahs zu vergleichen. Aber die Angst vor der Masse, die dem Kicken frönt, dürfte in Toronto und Teheran ähnlich sein. Und außerdem ist der Ausschluss von Emil Cohen ja auch ein Unding.

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Jahrgang 1964, Mitarbeiter des taz-Sports schon seit 1989, beschäftigt sich vor allem mit Fußball, Boxen, Sportpolitik, -soziologie und -geschichte

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