Debatte Serbien: Immer Ärger mit der Identität

Serbien tut sich mit Europa so schwer, weil es als alte europäische Kultur einen quasi natürlichen Anspruch auf Mitgliedschaft erhebt. Die EU hingegen fordert Leistung.

Trotz der erfreulichen Zugewinne für die proeuropäischen Parteien offenbart ein zweiter Blick auf das Wahlergebnis vom Sonntag eine andere Botschaft: Die serbischen Wähler haben in ihrer Mehrheit Parteien gewählt, die sich gegen die Priorität der europäischer Integration ausgesprochen haben. Woran nun liegt es, dass die aus westlicher Sicht Verantwortlichen für das Desaster der Milosevic-Zeit noch immer so populär sind? Warum scheitert die EU in ihrem zuletzt bis zur Peinlichkeit getriebenen Bemühen, eine klare Mehrheit der Serben dauerhaft auf einen europäischen Weg zu bringen?

Der Quell der Missverständnisse liegt nicht zuletzt in den verschiedenen kollektiven Identitäten. Darin, wer "wir" und "die anderen" in der Vergangenheit waren, in der Gegenwart sind und in der Zukunft sein sollen.

Die Europäische Union ist ihrem Selbstverständnis nach eine "Zivilisation", die im Sinne Norbert Elias im Unterschied zu einer "Kultur" auf Leistung beruht. Daraus folgt, dass sie - sofern die Regeln der Marktwirtschaft akzeptiert werden - im Prinzip integrativ und dynamisch ausgerichtet ist. Beständig versucht sie, den Raum des Friedens, des Wohlstands sowie der Demokratie auch in Gebiete jenseits ihrer Grenzen zu exportieren. Besonders deutlich kommt das offene Leistungsprinzip im Erweiterungsprozess zum Ausdruck. Dann, wenn die Bewerber sich für die Mitgliedschaft qualifizieren und die aufgestellten Regeln übernehmen müssen, um in den Genuss der Früchte der EU, "des gemeinsam Erreichten", zu kommen.

Im Kontrast hierzu definiert sich das in Serbien vorherrschende Selbstverständnis primär kulturell und in diesem Sinne als statisch. Serbien versteht sich als alte europäische Kultur und leitet daraus einen natürlichen Anspruch auf Mitgliedschaft ab; sie muss sie sich nicht erst verdienen. Das bislang noch restriktive Visa-Regime der EU und die Forderung nach Auslieferung der Kriegsverbrecher werden daher nicht als zivilisatorische Standards akzeptiert, für die Serbien eine Bringschuld hat. Vielmehr erscheinen sie weiten Teilen der Bevölkerung - so hört man es allerorten und unabhängig vom politischen Standpunkt - als schiere Instrumente der Demütigung und Unterwerfung.

In dieser Weltsicht bietet eine Anlehnung an Putins Russland nicht nur eine Alternative zur Leistungshegemonie des Westens, sondern auch eine politische Chance. Immerhin stemmt sich die Großmacht Russland gegen die Allmacht der USA.

Und das serbische Selbstverständnis besitzt noch eine weitere Implikation: Die serbische Identität definiert sich bis heute durch Abgrenzung zu den Nachbarkulturen, insbesondere solchen mit muslimischer Religion (Albaner, Türken, Bosniaken). Dass auch diese - bei entsprechender Leistung - einen Anspruch auf EU-Mitgliedschaft erwerben könnten, erscheint den meisten Serben schlichtweg als schleierhaft. Schließlich bildet der gerechte Kampf gegen die Osmanen vom 14. bis ins 20. Jahrhundert (auch die Bosniaken im Bosnienkrieg 1992-1995 wurden von den serbischen Einheiten "Türken" genannt) wie auch gegen die Kosovo-Albaner 1998-1999 einen zentralen Baustein der eigenen Geschichte der Abgrenzung.

Dementsprechend gaben sich die serbischen Regierungen in den letzten Jahren keinerlei Mühe, einen Plan für die Integration der Kosovo-Albaner in die serbische Gesellschaft vorzulegen. Da die Kosovo-Albaner die serbischen Wahlen ohnehin seit langem boykottiert hatten, beschloss die Regierung des "Legalisten" Kostunica darüber hinaus, sie einfach auch aus dem Wahlregister der Parlamentswahlen 2007 zu streichen und beraubte sie eines elementaren Bürgerrechts. Der Boden des Kosovo ist Teil der serbischen Kultur, die Kosovo-Albaner, die auf ihm leben, sind es nicht.

Das beständige Erinnern an die eigene kulturelle Besonderheit und an die Opferrolle - die mythologisch verklärte Niederlage gegen die Osmanen auf dem Amselfeld 1389 fungiert hierbei als historischer Kristallisationspunkt - sowie die Verdrängung jeglicher politischer Schuld und Verantwortung sind keineswegs zufällig, sondern entsprechen Mustern, die der Historiker Wolfgang Schivelbusch als "Kultur der Niederlage" charakterisiert hat. Hierin liegt der Kern der strukturellen Schwierigkeiten der EU-Annäherung Serbiens. Jedwedes Insistieren auf zivilisatorische Standards genauso wie wohlgemeinte wirtschaftliche Initiativen treffen im serbischen öffentlichen Diskurs auf diese "Kultur der Niederlage". Sie rufen wenn nicht Abwehr, dann großes Misstrauen hervor.

Deshalb sollte die EU nicht länger mit einer raschen Hinwendung Serbiens nach Europa rechnen. Was mitnichten bedeutet, Serbien den Rücken zu kehren. Vielmehr muss den vielen, vor allem jungen Menschen in Serbien eine europäische Perspektive eröffnet werden. An die Stelle kurzfristiger taktischer Manöver zugunsten einzelner Parteien oder Politiker sollte eine langfristig angelegte Strategie treten. Eine Strategie, die im Kern Identitäts- und Geschichtspolitik sein muss.

Dies ist zugegebenermaßen etwas Neues für die EU, die sich bislang eher auf die Herstellung materieller Voraussetzungen für einen Beitritt konzentriert hat. Die Herstellung immaterieller Beitrittsfähigkeit wurde bislang den nationalen Eliten überlassen, die - aus welchen Motiven sei dahingestellt - das nationale Selbstverständnis in öffentlichen Debatten "europakompatibel" machen sollten. Für Serbien ist eine solche "Europakompatibilität" mittelfristig aber nicht zu erwarten. Eingedenk der unausweichlichen Beitrittsperspektive Kosovos hat Serbien seinen Beitritt durch das in der eigenen Verfassung verankerte Versprechen der Nichtanerkennung Kosovos auf unabsehbare Zeit selbst blockiert.

Was könnten nun Elemente einer solchen langfristig angelegten Identitätspolitik sein? Hier seien nur Stichworte genannt: Reisefreiheit und großzügige Stipendien für Studierende und Schüler der Region, Städtepartnerschaften mit den Nachbarländern, Forschungsprojekte von Historikern aus der Region mit dem Ziel eines gemeinsamen Geschichtsbuchs, die vermehrte Präsenz westlicher Balkanexperten und Intellektueller in Nachrichtensendungen und Talkshows, Rundreisen und Diskussionsreihen mit Kriegsopfern mehrerer Länder sowie eine extensive Filmförderung.

Natürlich sollte man sich in Bezug auf all diese Instrumente keinerlei Illusionen hingeben: Solche Initiativen würden kurzfristig auf große Widerstände treffen, und das Suchen nach lokalen "Multiplikatoren" würde sich als schwierig und zeitraubend erweisen. Doch ein Weiterwurschteln im Sinne einer Verlängerung der diskursiven Schonzeit brächte nichts, da die nationalen Eliten in ihrer großen Mehrheit kein Interesse haben, die "Kultur der Niederlage" aufzubrechen. Sie haben sich gut in einer isolierten Gesellschaft der Monopole und Kartelle eingerichtet. Eine Veränderung des nationalen Selbstverständnisses aber lässt sich nur mit einer liberalen Identitätspolitik herbeiführen. Im Interesse eines europäischen Serbien sollte die EU das Ihre dazutun.

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