Debatte Steuerstreit: Wenn Reiche sich als Arme tarnen

Das Unwissen der meisten Wähler wird nirgendwo so ausgebeutet wie im Steuerstreit. Denn von den geplanten Steuersenkungen würde vor allem Besserverdiener profitieren

Der Trick funktioniert allzu häufig: Wenn die Tatsachen hässlich sind, dann muss man eben einen hübschen Begriff dafür finden. So wird aus AKW-Abfällen ein "Entsorgungspark", Entlassungen werden lieber "Strukturanpassungen" genannt und Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen heißen plötzlich "Effizienzgewinne".

Nun irrlichtert ein neues Schlagwort durch die Politik; es heißt "mehr netto". Widerwillig muss man anerkennen, dass diese Prägung aus der CSU-Begriffsschmiede geradezu genial ist. In nur zwei Worten wird ein doppeltes Versprechen transportiert: Wohlstand und Gleichheit. Es wird nicht nur ein Plus im Portemonnaie versprochen - es soll auch jedem zugute kommen. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich verwischen. Wenn angeblich alle "mehr" haben, so das CSU-Kalkül, dann werden die Bürger gar nicht bemerken, dass dieses "mehr" für einige Spitzenverdiener eigentlich großgeschrieben werden müsste, weil sie von den geplanten Steuersenkungen deutlich mehr profitieren würden als etwa ein normaler Angestellter.

Diese Täuschung der Bürger wird noch dadurch erleichtert, dass "mehr netto" so eingängig nach Schnäppchenjagd beim Discounter klingt. Unterschwellig wird durch diese semantische Analogie suggeriert, dass - wie beim Preisnachlass bei Aldi - gerade Geringverdiener besonders von einer Netto-Entlastung bei der Steuer profitieren müssten. Auch am Montag setzte die CSU wieder gnadenlos auf diesen Sprach-Effekt: Kaum hatte Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) verkündet, dass rund ein Viertel aller Deutschen von Armut bedroht sei, da skandierten die Bayern erneut ihr "mehr netto!"

Dabei helfen Steuersenkungen den Unterschichten gar nicht - schlichtweg, weil sie keine Steuern zahlen. Ein alleinverdienender Familienvater mit zwei Kindern muss rund 26.000 Euro brutto im Jahr verdienen, damit überhaupt Steuern fällig werden. Es sind nicht die Steuern, die das Netto so sehr nach unten drücken. Sondern die Sozialabgaben, die ab dem ersten Euro in voller Höhe fällig werden. Aber offenbar glaubt die CSU nicht, dass ihr Trick je auffliegen könnte. Sie scheint sich darauf zu verlassen, dass das überaus komplexe Steuerrecht für die meisten Wähler sowieso nicht zu durchschauen ist. Selbst Akademiker wissen oft nicht, was ein "Grundfreibetrag" ist oder wie die Steuerentlastung bei der Pendlerpauschale konkret funktioniert.

Dieses Unwissen wird im Parteienstreit gnadenlos ausgebeutet. Bedenkenlos werden die Bürger belogen. Der Armutsbericht ist dafür nur einer von vielen Anlässen. Ein paar weitere Beispiele aus den letzten Tagen: Das Öl wird teurer? Aber klar doch, da muss es mehr Pendlerpauschale geben. Die Konjunktur bricht ein? Auch da hilft bestimmt ein Steuergeschenk. Die Konjunktur bricht doch nicht ein, stattdessen sprudeln die Steuern? Her mit der Steuersenkung. Im PR-Deutsch heißt dieses Phänomen: Die Forderung nach Steuerentlastungen ist beliebig "anschlussfähig". Man kann sie immer erheben. Schon deswegen wird sie uns bis zur Bundestagswahl 2009 begleiten.

In diesem Wirrwarr können sich Laien nur an Indizien halten, um sich gegen den größten Unsinn zu wappnen: So müsste es misstrauisch stimmen, dass sich ausgerechnet die Mittelstands-Chefs von CSU und CDU so beharrlich dafür einsetzen, die Gering- und Durchschnittsverdiener zu entlasten. Denn eigentlich gehören die Arbeitnehmer nicht zur Stammklientel der Mittelstandsvereinigungen, die die mittelgroßen Firmen mit bis zu 500 Angestellten vertreten.

Gekonnt setzen die Unternehmer-Lobbyisten darauf, dass Mittelstand fast wie Mittelschicht klingt. Wieder verwischen die Unterschiede zwischen dem Durchschnitt und den Privilegierten. Und so fällt dann gar nicht mehr auf, dass eben auch 95 Prozent der Firmeninhaber der Einkommensteuer unterliegen - und dass diese daher ein großes Interesse daran haben, dass die Steuerbelastung in den oberen Einkommensbereichen sinkt.

Diese Verwirrspielchen rund um die Steuern sind nicht folgenlos: Am Ende hält sich jeder für einen Verlierer. Selbst viele Spitzenverdiener glauben ernsthaft, dass sie zu den Benachteiligten gehören. Dieses Selbstmitleid ist oft sogar echt, was die politische Wirkung nur noch steigert: Wenn schließlich alle arm dran sind, haben die tatsächlich Armen kein Recht mehr, sich zu beschweren. Umgekehrt wundert sich niemand mehr, dass die Privilegierten dringend entlastet werden müssen.

Aber manchmal rutscht es der CSU dann doch heraus, was sie mit ihrem Slogan "mehr netto!" tatsächlich beabsichtigt. Er wolle die 16 Millionen "Leistungsträger" entlasten, sagte CSU-Mittelstandschef Hans Michelbach kürzlich bei Phoenix. Das ist eine sehr freimütige Äußerung, zumal in der CSU, die sich offiziell als Volkspartei versteht: Insgesamt sind 40 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig. Von den geplanten Steuersenkungen aber würde vor allem das obere Drittel profitieren.

Wie dieser Trick funktioniert, lässt sich exemplarisch beim Grundfreibetrag zeigen. Er soll von 7.664 auf 8.000 Euro steigen. Jeder Steuerzahler, so könnte es scheinen, wird also irgendwie um 336 Euro entlastet. Das zu glauben wäre jedoch ein Missverständnis: Wer wie viel spart, hängt davon ab, wie hoch der Grenzsteuersatz ist, den man auf diese 336 Euro bisher zu zahlen hat. Bei Geringverdienern - sofern sie überhaupt Steuern abführen - sind dies rund 15 Prozent. Sie würden also etwa 50 Euro netto mehr erhalten. Ganz anders wäre es bei Spitzenverdienern, die den höchsten Steuersatz von 42 Prozent zahlen. Sie würden um etwa 140 Euro entlastet.

Das sind ja noch Peanuts, könnte man denken; über diese Differenz von 90 Euro muss man sich doch nicht aufregen. Aber bei der Pendlerpauschale funktioniert es genauso, und auch von irgendwelchen Korrekturen an der Progressionstabelle würden immer jene am meisten profitieren, die zu den Spitzenverdienern gehören. Das summiert sich am Ende auf Milliarden.

Wie sehr gerade die Einkommensstarken schon jetzt von den diversen Freibeträgen, Pauschalen oder Regelungen zur Gewinnermittlung profitieren, zeigt auch eine Zahl, die kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlicht hat: Selbst jene 450 Deutsche mit dem allerhöchsten Einkommen zahlen insgesamt nur 34 Prozent an Steuern. Das ist weit entfernt von dem offiziellen Spitzensteuersatz für Reiche, der ab einem Jahreseinkommen von 250.000 Euro bei 45 Prozent liegt. Theoretisch.

Insofern ist es nur konsequent, was die Linkspartei oder auch die Grünen fordern: Wenn man schon den Grundfreibetrag anhebt oder aber die Pendlerpauschale ausbaut, dann muss gleichzeitig der Spitzensteuersatz steigen. Es wäre jedenfalls ein bitterer Witz, wenn nun ausgerechnet der Armutsbericht dazu führen würde, dass die Steuern für die Spitzenverdiener am stärksten sinken.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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