Jugendsprache in Berlin-Neukölln: Wir sagen "Du Opfer!"

"Opfer" ist eine beliebte Beleidigung, auch "Jude" hat Konjunktur. Junge Neuköllner Rapper setzen Täterposen gegen alltägliche Ausgrenzung.

Schon blöd, so als Opfer. Bild: kallejipp/photocase

Jeder glaubt Neukölln zu kennen - den schlimmsten Berliner "Problembezirk" der "Parallelgesellschaften", ein Ghetto islamistischer Ausländer, deutscher Hartz-IV-Empfänger und tapferer Studenten, das rasant im Wachsen begriffen ist. Als Gast aus Chicagos berüchtigter South Side kenne ich jedoch das amerikanische Ghetto etwas besser als die Neuköllner Jugendbanden wie etwa die Ausländischen Ganxta Boys 44, die sich mit Gangsta-Rap-Stars aus Übersee identifizieren. Seit achtzehn Monaten betreibe ich Feldforschung, als ich an einer Neuköllner Grundschule als freiwilliger Aushilfs-Englischlehrer anfing. Seither habe ich wöchentlich die Gelegenheit, als Teilzeit-HipHop-Produzent mit "Gangstern" zusammenzuarbeiten.

"Sevinç, du sagst immer ,Opfer, Opfer!' Hör auf damit, ich hasse das!", sagt die zwölfjährige Julia, als ihre Mitschülerin sie zum Weinen gebracht hat. Sevinç sitzt in der Ecke und grinst. Mein Englischunterricht läuft aus dem Ruder. "Opfer" ist ein mächtiges Wort, das häufig zu solchen Konflikten führt. Aber was bedeutet es eigentlich? Die Klasse bietet folgende Definitionen an: (1) ein Loser, jemand der dumm ist, kein Geld hat und keine Frau kriegt; (2) ein Schwächling, der sich verprügeln lässt und dem man seine Sachen vollkritzeln kann; (3) ein Tier, das in islamischen Ritualen geschlachtet wird, beim Opferfest. So haben ausländischstämmige Kinder das Wort bestimmt. Sie setzen es in unterschiedlichen Zusammenhängen ein: als freundlichen Gruß ("Opfer! Jalla, wir gehen Cafeteria!"), als Fluch ("Waallah, Opfer, ich bin müde") oder als direkte Provokation ("Du Opfer!").

Die Minderheit der deutschstämmigen Kinder in der Klasse versteht das Wort aber ganz anders - das heißt: nicht so gut. Daher Julias Reaktion, auch wenn das Wort nicht direkt an sie gerichtet war. Ähnlich verhält es sich bei Lars, der nicht mehr Torwart sein möchte: "Die schießen ein Tor, und ich werde rausgeschmissen, die sagen ,Opfer, Opfer!' Und ich weiß nicht, was das heißen soll!" In meinem Unterricht haben Sevinç und Hans eine kurze Liebesgeschichte mit dem Titel "The Victim" geschrieben: Darin sieht sie ihn als Erwachsene wieder und gibt ihm einen Korb; denn "der Opfer ist einfach zu dumm!" "Opfer" lässt sich schwer übertragen. "Victim" trifft es allerdings in dem Sinne, dass es ebenfalls eine starke transitive Bedeutung hat. Man wird geopfert. Es gibt einen Täter, der seine Macht demonstriert.

Die Kinder wissen aber auch, dass das Wort "Opfer" in der deutschen Geschichte eine besondere Bedeutung hat - dass es Mitgefühl mit Menschen ausdrückt, die ausgestoßen wurden. Das erfährt man z. B. im Deutschunterricht, wo viele, insbesondere die Mädchen, sich stark mit Anne Frank, der kreativen und humorvollen Kameradin identifizieren. Zugleich wollen andere, vor allem die Jungs, nichts mit dieser von ihren Lehrern hervorgehobenen Sympathie zu tun haben, denn sie wollen sich nicht als "Opfer der Gesellschaft" vorstellen. "Ich stecke eure Faces in den Ofen", sagt ein Rapper den unbekannten "Opfern" seines Textes. Obwohl er behauptet, das sei "nur ein Satz", äußert seine Schwester sofort, dass er auf den Holocaust hindeutet. Auf diese ambivalente Weise beschäftigen sich die Jugendlichen mit dem Opfer-Status - teils als unbewusste Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, teils als eine bewusste Selbstbestimmung als Deutschlands heutige "Andere". Indem sie sich als "Täter" inszenieren, "Opfer" ständig wiederholen und es in unerwarteten Zusammenhängen einsetzen (etwa als Grußformel), versuchen sie, sich das Wort anzueignen.

"Die Deutschen reden immer so nett und höflich mit uns", sagt Sevinç. "Na und? Die Türken, die Araber haben unsre eignen Wörter. Wir sagen ,Du Hund!' oder ,Fick deine Mutter!' oder ,Du Opfer!' Das gehört zu unserm Slang." Mitschülerin Hikmet sagt es noch deutlicher: "Die Deutschen nehmen daran Anstoß, weil sie es nicht verstehen. Es ist einfach nicht ihr Wort. Sie regen sich auf. ,Warum nennst du mich Opfer? Ich bin kein Opfer! Du bist es!'" Besonders wichtig ist dieses Selbstbild für drei zwölfjährige Jungen palästinensischer und libanesischer Herkunft, die einmal in der Woche mit mir zusammen Rap-Musik schreiben und bei mir zu Hause und im Büro aufnehmen. Für sie ist wichtig, dass die Figur des Opfers so gut wie nie von einem Deutschen eingesetzt wird. Ihre Haltung den Deutschen gegenüber ist defensiv. "Ich bin in keiner Rütlischule, ich bin in einer Hitlerschule", sagt ein Klassenkamerad. "Spaaaß!" In ihren Raps heißt es: "Wir haben keine Lust, mit Deutschen rumzuhängen." Und es geht noch schlimmer. "Die Ausländer haben die Macht, und wer darüber lacht, wird umgebracht", ruft ein älterer Bruder. In seinem Rap sagt er den Deutschen: "Es ist dumm, Respekt vor euch zu haben, wenn ihr keinen Respekt vor mir habt."

Besteht die Figur des "Opfers" also nur aus Fantasie und Aggression oder gibt es doch jemanden, der damit gemeint ist? In dieser Hinsicht hat die Identität der Neuköllner Rapper zwei Seiten: eine lokale und eine globale. Die Ausländischen Ganxta Boys sehen sich selbst in einem "Ghetto", wo sie sich in immer engeren Kreisen drehen, auch wenn die Jungs betonen: "Meine Freunde kommen groß raus." Auch Jugendbanden wie die Ganxta Boys wissen, dass sie in den Medien als "Ausländer" beschrieben werden. Ich wohne in einem für sie völlig unbekannten Bezirk, in Berlin-Mitte, wo die Menschen angeblich sagen: "Hier gibt es keine Ausländer! Es ist so schön hier!" "Wir werden deine Nachbarn abstechen", scherzen die Jungs, als sie zu mir kommen, aber sie sind doch beleidigt, wenn deutsche Seniorinnen sie in der Straßenbahn wie Insekten anschauen. "Bei uns in Neukölln ist alles kaputt!" Jugendliche, die sich ihre Idee von Respekt bewahren wollen, sehen sich gezwungen, in ihrer Gemeinde die "Täter"-Rolle anzunehmen. Und ihr "Opfer" ist fast immer ein anderer Ausländer. "Egal ob Araber oder Türke, du wirst getötet / von mir und meiner Crew", rappt der eine. Und der andere: "Kleine Kids sind am Dealen, so ist es hier. / Wo sind die Kinder, wann beginnt die Schule? Sie sind alle am Spielen, und sie suchen den Sinn."

An der Unmöglichkeit einer zumindest in ihrer Fantasie idealen Lösung dieser Situation, nämlich die Rückkehr in eine Heimat, sind in den Augen der Kinder nicht die Deutschen, sondern vor allem die "Juden" schuld. Dies ist die globale Seite der "Gangster"-Identität. Bei ihren Eltern kommt dieses Verschulden der Juden nicht als Antisemitismus, sondern als Antizionismus und Antiamerikanismus zum Ausdruck. Bei den Jungs fehlen aber solche feine Unterschiede. "Juden" sind also die dritte Gruppe im Opfer-Täter-Zusammenhang. Sie tauchen bei meinen Rappern immer wieder auf. "Hier ist kein Dorf, du Hund", rappt einer. Das soll heißen: Wir wissen, worum es in der Welt geht. Auf der globalen Ebene existiert die Opfer-Täter-Spannung nicht nur unter Ausländern, sondern auch zwischen Muslimen und ihren Feinden. Ein Rapper, der Verwandte während des Krieges mit Israel verloren hat, misstraut den deutschen Nachrichten und sieht zu Hause nur al-Dschasira, obwohl sein Vater versucht, das den jüngeren Geschwistern zu verbieten. "Ich kann dir Fotos im Internet zeigen", erklärt er mir. "Dort bringen sie Kinder um, die jünger sind als ich, ich zeige dir, wie die Menschen sterben." Zwei Minuten später wechselt er vom Opfer zum Täter - am Mikrofon: "Ich bin der Araber aus dem Knast, du Spast, du hast was verpasst / meine Bombe tickt, du Fisch, du denkst / ich werd dein Wettergott, doch es ist mein Job, / dich zu killen, es ist mein Willen!" Auf dem Schulhof kommt es häufig vor, dass die Worte "Jude" oder "Judenschwein" als Beleidigung verwendet werden. (Die Kinder sagen aber "Neger" und "Zigeuner" fast genauso gerne.) Wenn man genauer nachfragt, hört man nur, dass die Juden "unser Land kaputt machen" und deshalb "Opfer" sind - obwohl sich die Kinder hier als die eigentlichen Opfer sehen.

Die Rapper argumentieren, dass keine Religion den Krieg heiligt und dass es nur wegen verrückter Extremisten auf beiden Seiten so weit gekommen ist. Das heißt aber nicht, dass Extremismus keinen Einfluss auf ihr Selbstbild und ihre Inszenierung von Männlichkeit hat. Ein Junge in der 6. Klasse hat mich gebeten, "Osama bin Laden" aufzuschreiben, als er erfahren hatte, dass ich die arabische Schrift kenne. Andere Schüler spielen in der Pause "Osama" und "Saddam Hussein", gehen aber aufeinander los, wenn einer sie "Osama" oder "Saddam" nennt. Mit breitem Grinsen sagt mir einer der Rapper: "Am 11. September war ich glücklich." "Wieso?", frage ich. "Weiß ich nicht. Ich habe mich irgendwie wohlgefühlt."

Die Identität dieser Neuköllner Kids ist von Widersprüchen geprägt. Sie träumen von ihrer fast mythisch gewordenen Heimat, können aber weder aus ihrem "Ghetto" fliehen noch sich in eine noch sehr "deutsch"-normative, immer islamfeindlichere Mehrheitsgesellschaft integrieren, denn ihren Familien fehlen die grundsätzlichen Zugangsmittel (u. a. Finanzen, Bildung, Sprachfähigkeiten). Sie eignen sich also Zeichen ihres Außenseiterstatus an und finden sich damit in einem endlosen Kampf mit ihren lokalen Feinden (Jugendbande, deutsche Lehrer) und globalen Unterdrückern (Juden, Bush-Regierung) wieder. Diese Strategie führt aber nur dazu, dass sie sich selbst opfern, indem sie als "Täter" auf der Suche nach "Respekt" sind, der wiederum nur mittels symbolischer und körperlicher Gewalt einzufordern ist. Obwohl ihre fantasievolle Inszenierung verschiedener gesellschaftlicher Rollen ihnen theoretisch die Möglichkeit anbieten könnte, aus ihrem "Ghetto"-Selbstbild herauszukommen, werden Rollen immer auf eine dualistische Opfer-Täter-Spannung reduziert. Dieser Konflikt kann nur gelöst werden, wenn die Jugendlichen, was viel zu selten der Fall ist, verstehen, dass die Kategorien Opfer und Täter, Deutsche und Ausländer, Muslim und Jude in der Realität in sich komplexe und gleichwertige Menschen benennen, mit denen sie täglich zu tun haben.

Ein paar Monate nach ihrem Streit mit Sevinç sitzt Julia im Unterricht und hört, wie ein arabischstämmiger Mitschüler sie auf Arabisch eine "Schlampe" nennt. Diesen und andere Ausdrücke hat sie inzwischen gelernt. "Bin ich nicht!", antwortet sie ihm. Beide werden rot. Sie muss sich so ähnlich gefühlt haben wie ich, als mich meine Rapper zum dritten Mal "Judenschwein" und "Hund" nannten, ohne von meiner jüdischen Herkunft zu wissen. "Jude bin ich!", sagte ich, "Hund nicht." Und im Aussprechen meiner bisher unterdrückten Identität empfand ich eine gewisse Befreiung von der Angst, in meiner eigenen Vielfältigkeit nicht akzeptiert zu werden. Ich wünschte, ich hätte ihre entsetzte Reaktion festhalten können. "Ich habe nicht gegen alle Juden was", beteuerten beide sofort. "Nächste Woche sollst du einen Rap für die Juden schreiben!" Sie verabschiedeten sich. Und gingen ruhig zurück ins Ghetto.

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