Kritiker Helmut Salzinger: Pionier im Pop-Entwicklungsland

17 Jahre nach dem Tod Helmut Salzingers erscheint nun mit "Best of Jonas Überohr - Popkritik 1966 bis 1988" eine Sammlung seiner Texte. Das Buch erzählt aber auch von seinem Scheitern.

Hatte das Ohr am Sound seiner Zeit: Der Pop-Kritiker Helmut Salzinger alisa Jonas Überohr. Bild: dpa

"Thomas Pynchon bringt der Zukunft nicht das mindeste Vertrauen entgegen", hat Helmut Salzinger in einer 1974 erschienenen Rezension über Pynchons postmodernen Roman "Die Versteigerung von No. 49" geschrieben. Zu jenem Zeitpunkt waren die Utopien der Sechzigerjahre bereits ausgeträumt. Salzingers Vertrauen in seine eigene Zukunft war, wenn auch nicht geschwunden, so doch zumindest erschüttert.

Man kann die Desillusionierung des Pioniers der Popkritik nun endlich besser nachvollziehen. Dank "Best of Jonas Überohr - Popkritik 1966 bis 1982", einer chronologischen Zusammenstellung Salzingers wichtigster Konzertbesprechungen, Essays, Buch- und Plattenrezensionen, die er unter seinem bürgerlichen Namen und dem Pseudonym Jonas Überohr für das Feuilleton (etwa Die Zeit und die Frankfurter Rundschau), öffentlich-rechtliche Radiosender, aber auch für Magazine wie Sounds und Twen geschrieben hat. Frank Schäfer hat mehr als 40 Texte aus dem Nachlass ausgewählt, erstmals in Buchform veröffentlicht und mit einem erhellenden Nachwort versehen.

Als Helmut Salzinger 1993 starb, 58-jährig, galt er als eine aus der Mode gekommene Randfigur, seine Bücher waren vergriffen, maßgebliche Artikel nicht mehr greifbar. Dabei gehörte er hierzulande zu den Mitbegründern der Popkritik als neue Gattung. Als einer der Ersten nahm er Rockmusik ernst und dachte mit Walter Benjamin als geistigem Schutzengel laut darüber nach, ob es trotz ihrer Warenform Anlass zu Hoffnungen gibt. Was nach einem theoretisch abgefederten Masterplan klingt und romantische Untertöne hat, war in Wahrheit ein langsames, teilweise auch qualvolles Scheitern.

In restaurativer Großwetterlage

Die Musikindustrie steckte in Deutschland Ende der 60er Jahre noch in den Kinderschuhen, und Publikationen, die ihre Künstler und Sprechweisen adäquat darstellen konnten, gab es noch nicht. Das Wissen über Popkultur war generell nicht sehr verbreitet. US-amerikanische und britische Soldatensender übernahmen diese Arbeit zunächst, was angesichts der politischen Situation (Vietnamkrieg) auch auf Ablehnung bei jungen bundesdeutschen Pophörern stieß.

Von Haus aus promovierter Germanist, setzte Salzinger seine Reputation aufs Spiel, als er anfing, sich mit den Aspekten des Pop im Feuilleton zu beschäftigen. Ähnliches widerfuhr zwar auch anderen frühen deutschen Popjournalisten (etwa Uwe Nettelbeck, Rolf-Ulrich Kaiser oder Ingeborg Schober), aber bei Salzinger verlief der Bruch mit den bürgerlichen Wertvorstellungen vielleicht am radikalsten. Denn seine Positionierung als Mittler zwischen konservativen Zeitungen und der linken Gegenkultur führte Ende der 60er zur Parteinahme für Letztere, ohne dass es auf der Linken viele Fürsprecher für ihn oder seine unorthodoxen Positionen gegeben hätte.

Natürlich wollte auch Salzinger dem "revolutionären Impetus eine Stimme verleihen", wie Frank Schäfer im Nachwort schreibt. Wer wie Salzinger damals offen mit der deutschen Studentenbewegung sympathisierte, machte sich im Feuilleton Feinde. Denn der bürgerliche Geniebegriff, ein (teils antiamerikanisch eingefärbter) Kulturpessimismus und die restaurative Großwetterlage in Westdeutschland der 60er vertrugen sich nicht mit dem "kaleidoskopartigen Unterschiedslosen", das er in den Hervorbringungen des neuen Underground erkannte.

Dass sich auch die Linke immer weiter von der ihr kommerzverdächtigen und daher suspekten Hippie-Subkultur abwandte, schwächte Salzingers Position immens. Zumal er nach 68 nicht mit den "Avantgarden" in den bewaffneten Kampf abdriftete. Das Klima der Repression, das etwa die RAF mit ihren Anschlägen auf die Spitze treiben wollte, durchschaute er früh, es ließ ihn auf Distanz gehen.

Salzinger übernahm 1967 Losungen der US-Hippie-Partei Yippies. Im Laufe der Siebziger wich dieses angetörnte Prankstertum einem eher vergrübelten Ökofundamentaslimus. Analog zu seinen musikalischen Vorbildern in den USA, Grateful Dead, war Salzinger Ende der Sechziger in eine Landkommune in Odisheim übergesiedelt. Er blieb den Rest seines Lebens dort wohnen, auch als die anderen das Experiment längst wieder abgebrochen hatten.

Bereits 1970 wurde er durch einen Text über Bootlegs für Die Zeit untragbar. Er schrieb zwar weiterhin für andere Zeitungen, zog sich aber weitgehend aus dem journalistischem Tagesgeschäft zurück. Mit dem künstlerischen Niedergang der Hippiekultur interessierte ihn Rockmusik immer weniger. Der Sinn für die sich schnell ändernden Stile und Moden, auf die popaffizierte englische Autoren von jeher spielerisch Bezug nehmen, aber auch für die individuellen Versionen von Rebellion, wie sie im US-Underground an entlegenen Stellen möglich waren, gingen Salzinger ab.

Zu selten machte er den Konnex von der Musik zur Kunst oder zum Kino. Ihm fehlte ausgerechnet das "Überohr" seines Pseudonyms, ein ästhetisches Besteck, das ihm die Einordnung und Verknüpfung von Szenen und Moden erleichtert hätte. Seine eigenen Versuche, mit einer Krautrockband Musik in der Landkommune zu machen, verliefen im Sande.

Am besten gealtert sind in "Best of Jonas Überohr" Salzingers Artikel über die US-amerikanische (Underground-)Literaten und den New Journalism der Sechzigerjahre. Figuren wie Irving Rosenthal, Hubert Selby und Tom Wolfe rezensiert Salzinger früh. Damit einhergehend beschäftigt er sich auch mit deren deutschen Zeitgenossen Hubert Fichte und Rolf-Dieter Brinkmann. Seine Urteile haben immer noch Bestand, während seinem Interesse für Musik schon damals stilistische Grenzen gesetzt waren, wie sie etwa ein Lester Bangs in den USA Anfang der Siebziger längst überwunden hatte.

Andererseits wendet Salzinger, wenn auch nur zaghaft, literarische Methoden an, um Musik unmittelbarer wirken zu lassen. Er schrieb nicht nur zu Außenseiterfiguren in Romanen, er war auch selbst einer: "Ich fühle mich nicht als ,Kritiker' ", formulierte er in einer Rezension über den Bluesrockgitarristen Johnny Winter. "Ich höre Musik und versuche, darüber zu schreiben, wie ich darüber spreche, wenn ich jemand erzählen will, dass ich eine neue Platte bekommen habe."

Von daher ist das Urteil, das Diedrich Diederichsen bei der Präsentation von "Best of Jonas Überohr" in der Berliner Buchhandlung pro qm über Salzinger gefällt hat, zu hart: Dass Helmut Salzinger provinziell gewesen sein soll, trifft zumindest auf seine antiautoritäre und über den Kanon erhabene Literaturkritik nicht zu. Für den Umstand, dass die Bundesrepublik in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern Popentwicklungsland war, kann man ihn nicht postum verantwortlich machen. Im Gegenteil, Salzinger hat versucht, diesen Umstand zu ändern, und dafür teuer bezahlt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.