Die Beinahe-US-Präsidentin des 19. Jahrhunderts: Victoria for President

Hillary Clinton ist nicht die erste Frau, die ins höchste Amt der USA strebt. Schon vor fast 150 Jahren versuchte das die feministische Brokerin Victoria Woodhull.

"Betrat verwegen die Arena der Geschäftswelt": Victoria Woodhull. Bild: ap

Marx und Engels waren entsetzt. Die Chefin der Anfang 1870 gegründeten Sektion 12 der Ersten Internationalen (IWA) in New York City gab sich nicht mit dem Kampf um Arbeiterrechte zufrieden, sondern vereinte verschiedene soziale Kämpfe unter einem Dach. Victoria Woodhull erweiterte das Spektrum der Sektion 12 um Themen wie Frauenwahlrecht und das Recht auf freie Wahl in der Liebe - Frauen, die sich im 19. Jahrhundert scheiden ließen, galten als stigmatisiert. Woodhull selbst hatte ihren trunksüchtigen ersten Ehemann da bereits verlassen und sich zum zweiten Mal verheiratet.

Sie lebte das freie Leben, für das sie kämpfte: 1870 gründete sie gemeinsam mit ihrer Schwester Tennessee Claflin die erste von Frauen geführte Brokerfirma Woodhull, Claflin & Co in der New Yorker Broad Street und löste damit einen Skandal aus. Zeitschriften veröffentlichten sexuell konnotierte Karikaturen der beiden Schwestern und bezichtigten geschäftstüchtige Frauen damit sexueller Unersättlichkeit oder Prostitution. Im gleichen Jahr begann Woodhull, mit Kapital aus der Firma ihre eigene Zeitung herauszugeben. Der Woodhull & Claflins Weekly wurde von einer Zeitung für Frauenbelange bald zum amerikanischen Organ der IWA: Am 30. Dezember 1871 druckte er erstmals in den USA Marx Kommunistisches Manifest.

Im April 1870 erklärte sich Victoria Woodhall in einem offenen Brief selbst zur Präsidentschaftskandidatin. Ob legal oder nicht, war umstritten. Sie war zu jung, und sie war eine Frau; sie hätte nicht einmal wählen dürfen. Dennoch, im New York Herald schrieb die damals 32-Jährige: "Während andere die Gleichheit von Frauen und Männern behaupteten, stellte ich sie durch erfolgreiches geschäftliches Engagement unter Beweis; während andere zu zeigen versuchten, dass es keine gültigen Gründe gäbe, Frauen Männern gegenüber als sozial und politisch minderwertiger zu behandeln, betrat ich verwegen die Arena () der Geschäftswelt und übte die Rechte aus, die ich bereits besaß. Deshalb beanspruche ich das Recht, für die stimmlosen Frauen in diesem Land zu sprechen. Im Glauben daran, dass die noch bestehenden Vorurteile gegenüber Frauen in der Öffentlichkeit bald verschwinden werden, erkläre ich mich hiermit zur Kandidatin für das Präsidentschaftsamt."

Anders als in Europa war die Frauenbewegung in den USA nicht aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen, sondern hatte sich parallel zur Anti-Sklaverei-Bewegung entwickelt. 1848 wird in Seneca Falls die erste Womens Rights Convention abgehalten. Während des Bürgerkriegs von 1861 bis1865 hatten die Frauenrechtsgruppen zeitweise den Kampf um Gleichberechtigung für Frauen aufgegeben, um für die Abschaffung der Sklaverei zu kämpfen. Für die Belange schwarzer Feministinnen blieben allerdings auch Woodhull und die meisten ihrer weißen Mitstreiterinnen blind.

Die europäischen Initiatoren der IWA waren mit der breit gefächerten US-amerikanischen Tradition überfordert. Weder der US-amerikanischen Arbeiter- noch der Frauenbewegung ging es um eine grundsätzliche Infragestellung der herrschenden Gesellschaftsform, wie es in Europa der Fall war. Vielmehr galt es, die Benachteiligten und Ausgeschlossenen am weithin akzeptierten politischen System zu beteiligen, um die sozialen Probleme des Landes zu lösen. In Europa standen Radikalismus, Arbeiterkampf und Marxismus entgegen Konservatismus, Marktliberalismus und Bourgeoisie. Viele US-Amerikaner, wie etwa Arbeiterführer, die den freien Markt befürworteten, von den Gewerkschaften ausgegrenzte ehemalige Sklaven, wohlhabende christliche Sozialisten oder mit dem Arbeiterkampf solidarisierende Feministinnen wären damit schwerlich erreicht worden - weshalb die europäische Klassenkampfrhetorik für die US-Amerikanerinnen und -Amerikaner nur schwer nachvollziehbar war.

Für viele Europäer wiederum durchkreuzten die US-amerikanischen Ansichten den Kampf um Arbeiterrechte. Marx schrieb aus London, die Sektion 12 habe keine Vorstellung von den Zielen der Internationalen. Victoria Woodhull bezeichnete er als "bankers woman, free-lover and general humbug".

Diese Querelen schlugen sich auch auf die Versammlung der Sektion 12 in der New Yorker Apollo-Hall am 10. Mai 1872 nieder. Als Victoria Woodhull dort offiziell zur Präsidentschaftskandidatin der eigens zu diesem Zweck gegründeten Equal Rights Party nominiert wurde, glühte jedoch noch einmal der Funke einer Hoffnung auf eine wahrhaft universelle, emanzipatorische internationale Bewegung auf. Es habe sich gestern, schrieb die Zeitung World am Tag nach der Versammlung, "die wahrscheinlich heterogenste Menschenansammlung, die sich jemals in einer Stadt zusammengefunden hat, getroffen. Da waren Männer und Frauen und solche, die, was Erscheinung und Kleidung betraf, beiden Geschlechtern zugeordnet werden könnten. Man sah alle Farb- und Hautschattierungen, () alle religiösen, politischen oder sozialen Nuancen und Vertreter aller bekannter 'ismen'. Das rote Banner der Kommune an einer Wand hing gegenüber blauer Banner mit Bibeltexten in goldenen Lettern an der anderen." Als Anwärter auf das Amt des Vizepräsidenten kandidierte der geflohene ehemalige Sklave Frederick Douglass.

Den Wahltag am 5. November 1872 verbrachte Victoria Woodhull allerdings im Gefängnis. Sie war wegen Rufmords verklagt worden, weil sie im Woodhull & Claflins Weekly über das ausschweifende Liebesleben des konservativen Kirchenmannes Henry Ward Beecher berichtet hatte, um auf die Bigotterie der US-amerikanische Gesellschaft hinzuweisen. Vier Wochen später wurde Woodhull zwar auf freien Fuß gesetzt und nach langem Hin und Her zwei Jahre später freigesprochen. Dennoch schadete diese Affäre ihrem Ruf massiv und war einer der Gründe, dass sie 1877 nach England auswanderte. Präsident blieb in zweiter Amtszeit der Republikaner Ulysses S. Grant.

Die Sektion 12 wurde 1872 schließlich aus der IWA ausgeschlossen - und dies wiederum läutete das Ende der Ersten Internationalen in den USA ein. Die einzelnen sozialen Reformbewegungen schlugen getrennte Wege ein. Erst fast hundert Jahre später, in den Sechzigerjahren, kämpften Bürgerrechts- und feministische Bewegungen wieder an gemeinsamer Front.

Woodhull glaubte nie wirklich daran, Präsidentin zu werden. Es ging ihr vielmehr darum, Symbolfigur zu sein: Frauen sollten nicht nur das Recht zu wählen, sondern das Recht auf politische Partizipation bis ins Weiße Haus haben. So hatte sie in einer Rede vor der Womens Suffrage Association im Mai 1871 betont: "Ich habe mich selbst zur Kandidatin ernannt, und allein diese Tatsache hat bewirkt, dass Menschen sagen: Warum auch nicht? Diesen Dienst habe ich Frauen auf Kosten jedweder persönlicher Ambition, die ich gehabt haben könnte, erwiesen."

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