Neue Tschechow-Inszenierungen in Berlin: Teekocher als Kampfansage

Im "Kirschgarten" an der Schaubühne überflügeln die Schauspieler ihre Figuren. Im "Onkel Wanja" am Deutschen Theater leidet man mit Trinkern, Heulsusen und Verliebten.

Das Wort Geld fällt reichlich an diesem Abend. Die schöne blonde Frau Ranjewskaja speit es aus wie Gift und Galle, während Langzeitstudent Petja Trofimow lange Vorträge über das Seelenelend hält, das die Jagd nach dem Geld so mit sich bringt. Der reich gewordene Ex-Bauer Lopachin hat die bankrotte Familie vor die Wahl gestellt: Entweder lässt sie ihr Landgut samt Kirschgarten in ein Feriendomizil für gestresste Großstädter verwandeln und verdient damit gar nicht schlecht - oder Haus und Hof werden zwangsversteigert. Man kann sich vorstellen, was diese Alternative für Leute bedeutet, die über Geld mit demselben Ekel reden wie über Kinderschänder ? und das, obwohl sie und ihre Lebensstil dringend darauf angewiesen sind.

An der Berliner Schaubühne verwandelt Falk Richter Tschechows russischen Landadel des späten 19. Jahrhunderts in eine Bürgerfamilie aus pseudolinken Faulpelzen, Selbsterfahrungstrommlern und Gedichteaufsagern, die mit einem Schlag aus ihren verlogenen Revolutionsträume erwachen. Dazu hat Richter zu Tschechow, der diesen Schlag im «Kirschgarten» vier Akte lang dehnt, einfach ein bisschen eigenen Senf hinzugefügt; nicht immer notwendigerweise. Was etwa der Aufsteiger Lopachin kichernd über sich selbst erklärt - «Ich bin ein Mastschwein in der Businesslounge» -, sieht man ihm bei Bruno Cathomas schon von weitem an. Und mit dem «Gesprächskreis» in pompöser Flokati-Landschaft (Bühne Katrin Hoffmann), zu dem Petja Trofimow am Ende des zweiten Aktes drängt, gelingt dem 38-Jährigen zwar ein kabarettistisches Kabinettstückchen, doch leider ist damit auch fast alles gesagt. Die jüngeren geigen den älteren Schwätzern die Meinung - «Man darf den Markt nicht in sich hineinlassen!» - und erweisen sich dabei schon als deren Erben.

Vor allem sind fast alle Schaubühnen-Schauspieler klüger als ihre Figuren und lassen sie das auch spüren. Kay-Bartholomäus Schulze als Leonid, Bibiana Beglau als Ranjewskaja und Mark Waschke als Petja spielen auf der Schwelle zur Karikatur. Falls Falk Richter, dessen eigene Theaterstücke regelmäßig von der Entfremdung im globalen Kapitalismus erzählen, hier eine Art linke Selbstkritik betreibt, dann spürt man dabei weder Schmerz noch Trauer.

Vielleicht braucht es nicht immer eine «Idee», um die Gestalten des Dr. Tschechow zum Leben zu erwecken. Manchmal reicht simple Neugier auf ihre Gedanken und Gefühle. Natürlich könnte dabei das gute alte Einfühlungstheater herauskommen. Nicht so - jedenfalls nicht nur - bei Jürgen Gosch, der in den letzten Jahren seinen Schauspielern zu ungeheuren Energieschüben verholfen hat. Oft, in dem er sie durch einfache Vorgänge in ein elementares Spiel verwickelt und in die Nähe der Performance Art getrieben hat. In «Onkel Wanja», seiner jüngsten Tschechow-Inszenierung am Deutschen Theater, schmiert jedoch das Ensemble weder mit Farbe noch falschen Körperflüssigkeiten, es simuliert weder Sturmfluten noch Wälder bei Nacht.

Stattdessen steht ein Samowar auf der Bühne, Inbegriff jeder gefühlig-sentimentalen Tschechow-Interpretation. Bei Gosch wirkt der Teekocher eher wie eine Kampfansage gegenüber der eigenen Methode und den Erwartungen seines Publikums. Tatsächlich ist dann der Blick, den er im flachen, das Geschehen abstrakt grundierenden Bühnenkasten auf Wanjas Patchworkfamilie und ihren Sommerbesuch wirft, durchaus der eines psychologisch-realistischen Erzählers. Allerdings eines nüchtern sezierenden, der seine Figuren gern extrascharf stellt - genau wie Johannes Schütz die kräftig gesetzten Kleiderfarbflecken vor lehmigem Hintergrund. So darf Christian Grashofs tyrannischer Kunstprofessor in einer grotesken, schlaflosen Nacht seiner sehr viel jüngeren Frau Elena (Constanze Becker) ausführlich sabbernd und grabbelnd auf den Leib rücken. Wenn Ulrich Matthes' unglücklich verliebter Wanja sie später trösten will, wird aus einer kleinen Geste erschreckten Innehaltens eine große Geschichte der Vergeblichkeit.

«Wenn man kein wirkliches Leben hat, dann nimmt man eben die Illusion» - diese einfache Parole variiert das grandiose Ensemble auf unterschiedliche Weise. Jens Harzers engagierter Arzt Astrow muss zur Flasche greifen, um zeichen- und zigeunerhaft über die Bühne zu tänzeln, Meike Drostes Heulboje Sonja leidet sichtlich weniger unter ihrer Hässlichkeit, solange sie - und sei es unglücklich - in ihn verliebt ist, Constanze Becker nimmt ihre frisch desillusionierte Elena roh und ernst und mit der unbewussten Erotik von Frauen, die sich selbst fremd bleiben. Ulrich Matthes, dessen depressive Hellsichtigkeit den Abend begleitet wie ein dunkler Bass, vergießt am Ende echte Tränen.

Gosch hat «Onkel Wanja» in klassischer Symmetrie angelegt: das erste Bild fädelt sich ohne Hast in das Landleben hinein, das vierte fadet langsam aus, dazwischen offene Sinnfragen, hundstraurig verfehlte Lieben und brüllkomische Familienkatastrophen. In dreieinhalb Stunden das ganze Leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.