Bundespräsident rügt Journalisten: Keine Haltung, keine Ahnung

Bundespräsident Horst Köhler rügt den Berliner Journalismus, und die Angesprochenen klatschen Beifall.

Bundespräsident Horst Köhler auf der Jubiläumsfeier der Bundespressekonferenz. Bild: ap

BERLIN taz | Man stelle sich vor, der Bundespräsident macht einen Betriebsbesuch in einer Wurstfabrik. In der Produktionshalle ist ein Rednerpult aufgebaut, ringsherum Beschäftigte in weißen Kitteln. Die Absatzkrise haben Sie sich selbst zuzuschreiben, sagt der Präsident. Ihre Wurst ist schlecht, mit der Hygiene nehmen Sie es auch nicht so genau. Gäbe es rauschenden Beifall, weil es endlich jemand ausgesprochen hat?

Genau das ist am Donnerstagabend in der Berliner Bundespressekonferenz passiert. Der Verein, dem mehr als 900 Parlamentskorrespondenten angehören, feierte 60-jähriges Bestehen. Horst Köhler hatte sich als Festredner eingeladen, er nutzte den Anlass zu einer Abrechnung. "Haltung haben" und "Ahnung haben", beides solle "mal wieder in Mode kommen", hielt der Präsident den Journalisten vor.

Die Kollegen quittierten es nicht etwa mit Unmut, sondern applaudierten wie befreit. Das Unbehagen am Gewerbe ist kaum irgendwo größer als unter den Berliner Korrespondenten selbst. Einige haben darüber schon Bücher geschrieben, viele haben sich im eigenen Medium darüber verbreitet.

Geändert hat es wenig. Dass sich die Hauptstadtjournalisten besser mit der Gesundheitspolitik der scheidenden Fachministerin beschäftigt hätten als mit deren Dienstwagengebrauch, wie Köhler in seiner überraschend lebendigen Rede betonte: Das stand bereits in fast allen Qualitätszeitungen. Allerdings befassten sich die Leitartikler wiederum nicht mit Gesundheitspolitik, sondern erörterten breit, warum das Dienstwagenproblem einer Erörterung nicht wert sei. Die Erkenntnis, dass die Klage über die angebliche Langeweile des zurückliegenden Wahlkampfs im Kern unpolitisch ist, hat ebenfalls keine alternativen Zugänge hervorgebracht.

Auch in der Amtsführung des Präsidenten suchten Beobachter bisweilen vergeblich nach einer klaren Haltung. Weder mit den dramatischen Reformappellen seiner ersten Amtsjahre noch mit den jüngsten Lobliedern auf die Gewerkschaften riskierte er eine Konfrontation mit dem jeweiligen Zeitgeist, da geht es ihm nicht anders als vielen Journalisten. Ganz so einfach wie mit den Hygienestandards für eine Wurstfabrik ist es in Politik und Journalismus dann doch nicht.

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