Die Wiederveröffentlichung des Jahres: Die \"On The Corner Sessions\" von Miles Davis sind auf CD erschienen. Aufnahmen, mit denen er den Jazz abschaffen wollte.: Der Jazz, der den Jazz beendete

Die Wiederveröffentlichung des Jahres: Die "On The Corner Sessions" von Miles Davis sind auf CD erschienen. Aufnahmen, mit denen er den Jazz abschaffen wollte.

Stest auf der Jagd nach einem neuen Sound: Miles Davis. Bild: ap

Es dürfte nur wenige Platten geben, zu denen der passende Autounfall existiert. "On The Corner" von Miles Davis ist eine davon. Er passiert am 21. Oktober 1972 auf dem New Yorker West Side Highway, und man kann sich die Unfallstelle ungefähr so vorstellen: Ein fluchender Miles Davis im stylischen Funk-Outfit, mit riesiger Sonnenbrille und Plateauschuhen, kann sich wegen schwerer Knochenbrüche nicht aus seinem gelben Lamborghini Miura befreien, den er gerade gegen die Leitplanke gefahren hat. Aus der Hifi-Anlage donnert Karl-Heinz Stockhausens "Hymnen".

"On The Corner", das Album, an dem Miles Davis und ein gutes Dutzend Musiker zu dieser Zeit arbeiteten, ist eine der kontroversesten Platten des Jazz. Wenn man sich die wunderschön gemachte CD-Box anhört, mit der die Columbia nun ihre Serie von historisch-kritischen Miles-Davis-Editionen fortsetzt, versteht man auch ganz neu, warum. Das "On The Corner" von 1973 war nämlich tatsächlich ein Unfall. Zu kurz, zu gedrängt, zu nervös. Die sechs CDs der "On The Corner Sessions" sind der real deal. Eine Jazzplatte, damit nie wieder eine Jazzplatte erscheinen muss.

Denn das war Miles Davis Idee. Mit "On The Corner" wollte er den Jazz abschaffen. Mit seinen vorhergehenden Platten hatte er den Jazz elektrifiziert, er hatte Jazz und Rock verschmolzen - nun sollte es noch einen Schritt weiter gehen. Dafür holte Davis sich den britischen Avantgarde-Komponisten Paul Buckmaster nach New York, der ein paar Alben mitbrachte, unter anderem Aufnahmen von Karl-Heinz Stockhausen, die Miles Davis so beeindruckten, dass er sie tagelang auf der Hausanlage seiner New Yorker Stadtvilla laufen ließ und in sein Auto mitnahm. Und er holte sich lauter junge Musiker, denen er verbot, "Jazz" zu spielen, und die er ansonsten einfach machen ließ.

Das Ergebnis war ein Album, das ziemlich umfassend verstörte. "Man nehme etwas Chunka-chunka-chunka-Rhythmus, eine Menge kleiner Herumdaddel-Background-Percussion-Geräusche, einige elektronische Verzerrungen, füge einfache Melodien hinzu, die sich alle gleich anhören und spiele dazu 'spacige' Soli. Du hast einen Groove, bei dem bleibst du und schon hast du deine 'Magie'. Die Frage ist, ist es wirklich Magie oder einfach nur Langeweile?", zitiert das Booklet Leonard Feather aus dem amerikanischen Jazzmagazin Downbeat, einer der berühmtesten Verrisse der Jazzgeschichte. Eine Beschreibung, die auch 35 Jahre später noch ziemlich zutreffend ist, vor allem in der Beschreibung eines Konflikts: "On The Corner" reißt eine Lücke in das Raumzeit-Kontinuum des Jazz, die sich bis heute nicht geschlossen hat. Vorher war musikalischer Fortschritt eine logische Entwicklung innerhalb des Jazz. Von nun an muss man dafür über den Jazz hinausgehen. Auf der anderen Seite betreten die Konservativen betreten das Feld.

Die Frage ist erlaubt: Wofür all das? Warum sich sechs CDs mit rund 407 Minuten Musik anhören? Weil Miles Davis draufsteht? Sie ist einfach zu beantworten. So wie Columbia die "On The Corner Sessions" präsentiert, sind sie schlicht besser als das Original. Nicht weil sie so viel bisher unveröffentlichtes Material präsentieren würde: Die meisten Stücke sind schon auf späteren Alben wie "Big Fun" und "Get Up With It" erschienen. Aber so zusammenhängend präsentiert, kann man die Suchbewegung nachvollziehen, mit der Davis und seine Musiker einem neuen Sound hinterher jagten.

Es ist ein neuer Gruppensound, der Davis vorschwebt. Eine andere Art von kollektiver Improvisation. Als Bandleader war Davis immer schon ein großer Zuhörer gewesen, jetzt, wo er auch seine Trompete elektrifiziert und beim Proben festgestellt hatte, dass sich nur kurze Phrasen gut anhören, spielt er nicht nur weniger, es spielen vor allem immer mehrere Musiker gleichzeitig. Nebeneinander und übereinander. Ein Konzept, das, so behauptete Davis in seiner Autobiografie wenigstens, genauso viel der Bühnenshow von Sly Stone wie dem Jungle-Style des kurz vorher verstorbenen Duke Ellington und dem Johann-Sebastian-Bachschen Kontrapunkt und Polytonalität verdankte - Buckmaster übte während der Arbeit an "On The Corner" in Davis Wohnung regelmäßig Stücke von Bach auf dem Cello.

Doch all dies - Stockhausen, Bach, Ellington, Stone, Brown, dazu der mächtige Kokainkonsum, der Davis tagelang wachhielt - war schlicht zu viel für eine Platte. Sie floppte ja auch, ziemlich spektakulär sogar. Was nicht zuletzt an den Folgen des Autounfalls lag, Miles Davis konnte keine Konzerte spielen, um das Album zu promoten. Auf sechs CDs ausgebreitet ist es einer der aufregendsten Entwürfe der Jazzgeschichte. Wenn das alte Klischee vom Künstler, der seiner Zeit voraus ist, einmal seine Berechtigung hat, dann hier: Aauch 35 Jahre später haben nur wenige diese Musik eingeholt.

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