Künstler Michel Chevalier über Gentrifizierung: "Klassenkampf von oben"

Fadenscheinig nennt er den Widerstand der Kunstszene gegen die Gentrifizierung, Karl-Marx-Namedropping hält er für viel zu wenig: Der Hamburger Michel Chevalier über Kunst, Markt und Konventionen.

Stellt mit meinem Ladenprojekt die übliche Praxis der Kunstwelt auf den Kopf: Michel Chevalier. Bild: Privat

taz: Herr Chevalier, in der Gentrifizierungsdebatte geht es immer wieder um die Frage, wie Künstler und Kreative ihrer Rolle im Aufwertungsprozess entkommen können. Als fadenscheinig kritisieren Sie die Widerstände der Kunstakteure. Warum?

Michel Chevalier: Für viele Künstler macht Kritik da halt, wo es ihren Status innerhalb des Kunstmarktes betrifft. Kuratoren, Künstler aber auch Ausstellungen üben zwar punktuell Kritik, greifen aber nicht die Plattform an, auf der sie sich zur Schau stellen. Es gibt immer ein paar ethische Arbeiten, die dann zeigen sollen, dass Kunst ganz breit ist. Das alles läuft darauf hinaus, den ganzen Zirkus zu legitimieren.

Wie wirkt sich dieses Legitimieren konkret aus?

Personen wie Daniel Richter, Thomas Hirschhorn, Isabelle Graw und Diedrich Diederichsen machen zwar Marx-Namedropping, haben aber einen konservativen Kunstbegriff und die entsprechende künstlerische Praxis und Kunstvermittlung. Eine Position, die sehr gut mit dem Kunstmarkt zusammengeht.

42, wurde in Washington, DC geboren und kam 1996 nach Hamburg. Seit 1998 stellt er auf Festivals und in alternativen Räumen Kunst aus. Er selbst bezeichnet sich mitunter als "Art-Practioner".

Bereits seit Mitte der 80er Jahre ist Chevalier auch als Musiker aktiv, derzeit als Sänger und Klarinettist bei Ur! Geller.

Er ist Mitinitiator des Archivs "Kultur & Soziale Bewegung" und hat das experimentelle Ladenprojekt "unlimited liability" initiiert.

Letztmals geöffnet ist Chevaliers "symbolischer Kampf außerhalb der Konventionen der freien Marktwirtschaft" am heutigen Samstag: 13 bis 19 Uhr, Hamburg, Norderstraße 71.

Wie hätte aus Ihrer Sicht künstlerischer Widerstand auszusehen?

Man muss den Kunstmarkt und die soziale Funktion von Kunst angreifen: von den sozialen Hierarchien bis zur Frage, was Kunst zu sein hat. Wenn es nur noch darum geht, das Feld der kritischen Künstler zu besetzen und dabei eine Kunst zu machen, die im Einklang mit den Regeln des Kunstmarktes ist, folgt man den Konventionen.

Die da wären?

Zum einen gibt es eine sehr intellektuelle Auseinandersetzung in der Tradition von Marcel Duchamp und Andy Warhol, die aber nie die Autonomie der Kunst infrage stellt. Zum anderen geht es um die Sinnlichkeit. Der ehemalige Direktor der Hamburger Deichtorhallen, Robert Fleck, hat einmal gesagt, dass eine spröde Konzeptkunstästhetik endlich mit Sinnlichkeit aufgeladen würde. Dabei kommen dann großformatige Lambda Prints heraus, Skulpturen, die sich an sofort erkennbare Designansätze anlehnen, und bunte Impasto-Malerei.

Die These des amerikanischen Ökonomen Richard Florida ist, dass die kreative Klasse Teil der Aufwertungsspirale von Städten sei.

Zunächst muss ich sagen, dass der Begriff der Kreativen auf der Schwelle zum Klassenrassismus steht. Weil damit die Kinder der bürgerlichen Familien gemeint sind. Aber auch die Argumentation, dass Künstler automatisch Aufwerter seien, ist falsch. Es gibt Kunstpraktiken, die nicht zufällig an den Kunstmarkt und an das bestehende Kunstsystem angepasst sind. Die haben auf jeden Fall einen Gentrifizierungseffekt. Das zeigt sich am Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg mit der Internationalen Bauausstellung, dem "Dockville"-Festival für Kunst und Musik und der WCW Galerie. Aber es gibt auch andere, die nicht mit Gentrifizierung funktionieren.

Und Sie haben da einen anderen Ansatz?

Mit meinem Ladenprojekt "Unlimited Liability" stelle ich die übliche Praxis der Kunstwelt auf den Kopf. Die meisten Leute können Galerien zwar besuchen, Bilder ansehen und darüber sprechen. Aber wegen ihrer Einkommensverhältnisse können sie nichts kaufen. Nur die oberen zwei Prozent sind Genießer und Aneigner. Bei mir ist es so, dass Leute mit mehr als 50.000 Euro Aktivkapital nichts kaufen können. Die Preise liegen zwischen null und 35 Euro.

Das ist dann wohl eine existenzielle Frage. Leben Sie nicht von Ihrer Kunst?

Nein, denn es ist wichtig, finanziell vom Kunstmarkt unabhängig zu sein. Keine einzelne Person hat das Recht, von Kunst zu leben. Erst wenn alle das Recht dazu haben, ist es legitim.

Und so entkommen Sie der Instrumentalisierung?

Das kann ich nicht beurteilen. Man sollte nicht die Intelligenz der anderen Seite unterschätzen. In New York war das kurz der Fall, wo die Gentrifizierungsdebatte in den 1980er Jahren entbrannt ist. Dort schlossen sich Künstler, Straßenpunks, Obdachlose und ethnische Minderheiten zusammen. Die Auseinandersetzungen mündeten dann in einem Straßenkampf gegen die Polizei. Die Künstler gingen gegen die Konventionen des Kunstmarktes mit seiner Warenproduktion an. Und es ging darum, dass Gentrifizierung Klassenkampf ist.

Inwiefern?

Gentrifizierung ist als Teil des neoliberalen Projektes ein Klassenkampf von oben. Eine konservative Gegenrevolution mit dem Ziel, die sozialen Errungenschaften der letzten 100 Jahre rückgängig zu machen.

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