GASTKOMMENTAR VON KERSTIN HERRNKIND: Jenseits der juristischen Schuld

Was sich in den knapp zwei Jahren vor dem Mord an ihrer Kollegin Heike Block zugetragen hat, versuchen Schulleitung und LehrerInnen derzeit mit aller Kaft zu verschleiern. Das Kultusministerium sollte für Aufklärung sorgen.

Kerzen am Gymnasium Osterholz-Scharmbeck: Trauer ja, aber keine Aufklärung. Bild: dpa

Beim Prozess gegen Gero S., der angeklagt ist, seine Lehrerin Heike Block erstochen zu haben, spielt die Vorgeschichte des Mordes für die Richter nur eine untergeordnete Rolle. Dabei ist sie hoch interessant. Denn nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hat der Schulleiter des Gymnasiums Osterholz-Scharmbeck Heike Block dazu verpflichtet, ihrem Schüler Gero S. Einzelunterricht zu erteilen. Und zwar obwohl sich Heike Block von diesem Schüler bedrängt fühlte. Der Einzelunterricht ist hinlänglich belegt: Durch ein Protokoll, das Heike Block geführt hat, Emails und Zeugenaussagen. Doch diese Dokumente sind eher ein Abfallprodukt der Ermittlungen. Für die juristische Schuldfrage des Täters sind sie irrelevant.

Deshalb ist jetzt die Schulbehörde, wenn nicht gar das Kultusministerium, gefordert, diese Vorgeschichte gründlich aufzuarbeiten. Denn Schulleitung und LehrerInnen setzen derzeit alles daran, zu verschleiern, was sich in den knapp zwei Jahren vor dem Mord an der Schule zugetragen hat und welche Rolle der Schulleiter spielte. Anstatt dem Rektor kritische Fragen zu stellen, hat das Kollegium seinem Chef jetzt in einer Art Ehrenerklärung das Vertrauen ausgesprochen. Als wenn sich die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft per Abstimmung aus der Welt schaffen ließen. Im Zuge meiner Recherche habe ich diverse Gespräche mit dem Rektor geführt und ihn auch gefragt, was es mit dem Einzelunterricht auf sich habe. Zunächst bestritt der Rektor, Einzelunterricht angeordnet zu haben. Erst als ich ihn damit konfrontierte, dass Gero S. seine Lehrerin in einer Email geschrieben hatte: "MFG, Dein Ein-Personen-Kurs", räumte der Schulleiter ein, dass Heike Block mit Gero S. "Arbeiten korrigieren" und "besprechen" sollte. Als Grund gab der Rektor an, er habe "Geros Bedürfnis, Kontakt zu halten" bei dieser Entscheidung "mit berücksichtigen" wollen. Dass sie gestalkt worden sei, habe Heike Block "nicht in dieser Schärfe" zum Ausdruck gebracht.

Redakteurin beim Magazin Stern und Buchautorin ("Maries Akte"). Sie war von 1995 bis 1999 Redakteurin bei der taz in Bremen (damals hieß sie noch Schneider). Ihr Bericht über den Mord an Heike Block "Tod einer Lehrerin", erschien im Stern Nr. 21 am 20. Mai 2010

Der Rektor muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, warum er das aufdringliche Verhalten von Gero S. mit Einzelunterricht belohnt hat, anstatt ihn von der Schule zu schmeißen. Denn Warnungen, die ihm die "Schärfe" der Situation hätten verdeutlichen können, gab es genug. Gero S. hatte vorher schon zwei Schülerinnen belästigt. Und einer der Fälle weist bestürzende Parallelen zum späteren Mord auf. Damals hatte Gero S. von einem Mädchen heimlich Fotos geschossen. Wenn sie die Fotos wiederhaben wolle, müsse sie ihm einen Fragenkatalog beantworten, erpresste Gero S. seine Mitschülerin. Beide Fälle waren Gesprächsthema an der Schule. Die Mädchen gingen Gero S. deshalb aus dem Weg. Und auch dem Schulleiter waren diese Fälle bekannt.

Und schon im Februar 2008 schrieb die Lehrerin Cornelia N. dem Schulleiter, dass die Situation "bedrohlich" sei. Auch sie hatte Angst vor Gero S. Doch selbst als Heike Block dem Rektor im August 2008 erzählte, dass sie wegen Gero S. einen Anwalt konsultiert habe, erkannte der Schulleiter die "Schärfe" der Situation immer noch nicht. Der Rektor muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er blind und taub war für die Ängste seiner Mitarbeiterinnen vor einem Mann. Denn Gero S. war volljährig und kein kleiner Junge mehr.

Zwar war der Rektor nicht untätig. Er hat dafür gesorgt, dass Gero S., der verhaltensauffällig war, psychologisch betreut wurde. Der Schulleiter hat mit Polizei und sozialpsychiatrischen Dienst versucht, Gero S. in die Psychiatrie einzuweisen. Das geschah allerdings nicht, um Heike Block vor diesem Stalker zu schützen. Der Rektor wollte Gero S. helfen und fürchtete, dass der Schüler Amok laufen würde. Deshalb wurde er aktiv. Er hat viel für Gero S. getan. Aber zu wenig für Heike Block.

Trotzdem ist der Rektor nicht schuld am Tod der Lehrerin. Schuld ist Gero S. Aber dass Schulleitung und Kollegium nun den Eindruck erwecken, als hätte der Mord nichts mit ihrer Schule zu tun, weil die Tat neun Monate nach dem Abgang von Gero S. geschah, ist unredlich. Heike Block ist ihrem Mörder an dieser Schule begegnet. Gero S. hat Heike Block gestalkt, als er Schüler und sie seine Lehrerin war. All das muss aufgearbeitet werden: Denn nur eine schonungslose Aufarbeitung bewahrt vielleicht den nächsten Schulleiter vor derartigen Fehleinschätzungen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.