Charles Taylor vor Gericht: Friedenstruppen aufgegessen

Vor dem Sierra Leone-Tribunal in Den Haag wird Liberias Ex-Präsident Charles Taylor bezichtigt, seine Kämpfer zum Kannibalismus angestiftet zu haben.

Ob die Staatsmann-Fassade hält? Charles Taylor vor Gericht. Bild: rtr

DEN HAAG taz Beinahe unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat der Kriegsverbrecherprozess gegen Charles Taylor vor einer Strafkammer des Special Court for Sierra Leone eine dramatische Wendung genommen. In einer zum Teil haarsträubenden Zeugenaussage, die sich über drei Tage hinzog, belastete ein enger Vertrauter den früheren Präsidenten Liberias und Kriegsfürsten schwer. In sachlichem Ton berichtete der Zeuge von unzähligen Morden, unter anderem an Kindern und schwangeren Frauen, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten in Sierra Leone, Liberia und Guinea, die er alle auf Befehl Taylors begangen haben will. Besonders ausführlich schilderte Joseph "Zigzag" Marzah, der Taylor über zehn Jahre diente, Kannibalismus in einer Vielzahl von Fällen, was er ebenfalls auf ausdrückliche Anordnung von Charles Taylor getan haben will.

Eben konnte man in dem sterilen Sitzungssaal im Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in einem Aussenbezirk Den Haags einen Einblick in Abgründe der menschlichen Natur erhaschen, die meist verborgen bleiben. Seit 7. Januar diesen Jahres wurden bereits zwanzig Zeugen gehört. Dies waren sowohl sogenannte Insider als auch Opfer, die von Zwangsarbeit, sexueller Gewalt, Mord, Amputationen von Gliedmassen und Plünderungen berichteten und Taylor zum Teil schwer belasteten. Keinem dieser Zeugen gelang es jedoch Taylor aus der Ruhe zu bringen, der immer tadellos gekleidet im dunklen Anzug mit Krawatte konzentriert Notizen machte und seinen Anwälten Anweisungen gab.

Dieses Bild des zu Unrecht angeklagten Staatsmannes hat jetzt erste Risse bekommen. Taylor hörte mit angewiderter Miene den sehr überzeugend wirkenden Ausführungen Marzahs zu kannibalistischen Ritualen eines Geheimbundes, des poro, zu, dessen Anführer er, Taylor, gewesen sein soll. Auf Anordnung Taylors wollte der Zeuge auch getötete oder hingerichtete Feinde verspeist haben, unter ihnen gefangen genommene Soldaten der nigerianischen Friedenstruppen. Marzah beschrieb wie Taylor und seine engsten Vertrauten bei Ritualen ihrer poro-Gesellschaft die Herzen ermordeter Konkurrenten aßen und im Jahre 1995 ein okkultes Ritual auf dem Strand außerhalb Monrovias, der Hauptstadt Liberias, veranstalteten. Bei diesem Ritual soll eine schwangere Frau lebendig begraben und ein lebendes Schaf von den anwesenden Kämpfern mit bloßen Händen in Stücke gerissen geworden sein. Auf Nachfrage von Taylors Anwalt, Courtenay Griffiths, sagte Marzah er "bereue nichts", da er auf Anordnung seines "Führers" Taylor gehandelt habe.

Kannibalismus und Rituale eines Geheimbundes? Dies scheint längst überwunden geglaubte Vorurteile über Afrikaner, die jederzeit wieder in ihren Aberglauben zurückfallen können, zu bestätigen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Unter dem Begriff poro werden eine Vielzahl in ganz Westafrika verbreiteter Geheimbünde zusammengefasst. Die poro-Geheimbünde, denen nur Männer angehören, erfüllen wichtige Aufgaben bei der Initiation von Jungen und allen Aspekten des politischen und religiösen Lebens. Die poro waren vor der Ankunft staatlicher und kirchlicher Bildungsinstitutionen die zentrale Erziehungsinstitution in dieser Region und sorgten für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung.

Obwohl die Wurzeln des poro mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, ist der heutige poro ein modernes Phänomen, das während des Kontakts zwischen den ersten Siedlern Liberias und Sierra Leones, freigelassenen Sklaven, mit den dort lebenden Gruppen im 19. Jahrhundert entstand. In Liberia war der poro ein Versuch der indigenen Bevölkerung die Kolonisten und deren Staat in die lokalen Beziehungsnetzwerke einzubinden. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass der poro in Vielem den bei den schwarzen Siedlern, den so genannten Americo-Liberianern, weit verbreiteten Freimaurerlogen und deren Ritualen glich. In den 1950er Jahren unternahm der liberianische Staat Versuche den poro bei der Ausweitung seiner Herrschaft über die ethnischen Gruppen des Hinterlandes einzusetzen. Diese Bestrebungen gipfelten darin, dass der Präsident Liberias seit den 1950er Jahren auch das Oberhaupt aller poro-Bünde des Landes ist. Der poro wandelte sich somit von einer Institution, mit dem die indigene Bevölkerung die Vertreter des Kolonialstaates zu kontrollieren versuchte, zu einem Herrschaftsinstrument mit dem der Staat versuchte seine Herrschaft über die indigene Bevölkerung auszudehnen.

Es gibt keinerlei Hinweise auf Kannibalismus in diesen regulären poro- Geheimbünden. Jedoch gab es seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder Berichte über in noch größerer Verborgenheit operierende Geheimbünde, den so genannten Leopardmenschen oder Alligatormenschen, die angeblich magischen Kannibalismus praktizierten, um ihre mentalen und physischen Kräfte zu mehren. Berichte über die Aktivitäten dieser Geheimbünde sind auch im 20. Jahrhundert immer wieder aufgetaucht, es kam auch zu vereinzelten Prozessen in beiden Ländern. Seit dem 16. Jahrhundert spielte in dieser Region eine weitere Form von Geheimbünden eine wichtige Rolle bei der Kriegsplanung und -führung. Diese exklusiven Bünde, in manchen Gegenden unter dem Namen wunde bekannt, waren nur ausgewählten Mitgliedern der regulären poro-Bünde vorbehalten und praktizierten nach zeitgenössischen Berichten magischen Kannibalismus in ihren Kriegszeremonien.

Es ist anzunehmen, dass der während der Bürgerkriege in Sierra Leone und Liberia vorkommende Kannibalismus eine Fortsetzung dieser zeremoniellen Aspekte der Kriegsführung in Westafrika darstellt. Es wäre jedoch vorschnell, diese Phänomene dem Bereich der Tradition und angeblichen primordialen Veranlagungen der Afrikaner zuzuschlagen, wie die Geschichte des poro in Liberia zeigt. Sollte die Aussage des Zeugen zutreffen, stand Taylor an der Spitze eines komplexen Herrschaftssystems bei dem er sowohl Anführer einer bewaffneten Gruppe, der National Patriotic Front of Liberia (NPFL), als auch der spirituelle Führer einer Geheimloge war, durch deren magische Rituale er sich die unbedingte Treue ihrer Mitglieder sicherte. Der Kannibalismus, bei dem die Mitglieder des Bundes zusammen einen Mord begehen und das Herz des Feindes gemeinsam verspeisen, wäre hierfür ein äußerst wirksames Mittel. Eine dritte Dimension dieses Herrschaftssystems wäre dann der durch den Bürgerkrieg ausgehöhlte Staatsapparat, dem er von 1997 bis 2003 als Präsident vorstand. Der weitere Verlauf des Prozesses wird hoffentlich zeigen, ob die Schilderungen Marzahs "ein Produkt seiner Einbildung" waren, wie ihm Griffiths vorwarf, oder ob hier eine dunkle Seite der an Gräueltaten wahrlich nicht armen Kriege, die in den 1990er Jahren Westafrika heimsuchten, ans Licht gebracht wurde.

Dr. Gerhard Anders ist Oberassistent und Lehrbeauftragter am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich.

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