Wanderarbeiter in China: Die Rechtlosen

Südchinas Exportindustrie war schon vor der Finanzkrise in Schwierigkeiten. Doch Chinas Wanderarbeiter trifft die neue Entlassungswelle besonders.

Manchmal wehren sich Wanderarbeiter und erkämpfen eine Abfindung. Bild: reuters

Ein kalter Wind weht über den Vorplatz des Ostbahnhofs der Industriestadt Dongguan. Cheng Yi und ihre zwei Kolleginnen haben ihre Koffer und Taschen abgestellt. Vor dem Bahnhofseingang warten sie fröstelnd auf Freundinnen aus ihrem Heimatdorf in der Provinz Sichuan. Heute endet für die jungen Wanderarbeiterinnen unfreiwillig ein zweijähriger Aufenthalt in der bisherigen Boomprovinz Guangdong. "Wir haben in einer Elektronikfabrik Fernbedienungen für Fernseher hergestellt", klagt die 20-jährige Cheng. "Jetzt wurden wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise plötzlich 150 der 300 Mitarbeiter beurlaubt."

Das Deltagebiet des Perlflusses in der südchinesischen Provinz Guangdong ist mit seinen 41 Millionen Einwohnern das Zentrum von Chinas leichtindustrieller Exportindustrie. Sein Tor zur Welt ist die frühere Kronkolonie Hongkong (7 Millionen Einwohner). Als Vertriebszentrum ist sie wirtschaftlich integriert, aber politisch autonom. Die größten Städte sind die Provinzhauptstadt Guangzhou (Kanton, 10 Millionen Einwohner), Shenzhen (12 Millionen), Dongguan (8 Millionen Einwohner, davon 6 Millionen Wanderarbeiter) und Foshan (7 Millionen). Vor 30 Jahren begann mit den Sonderwirtschaftszonen Shenzhen und Zhuhai im Hinterland von Hongkong und Macao die Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping. Sie bescherte der einstigen Agrarregion dank großer ausländischer Investitionen einen Boom mit durchschnittlich 15-prozentigem Wachstum und verwandelte sie in ein Konglomerat von Industriezonen. Millionen Wanderarbeiter produzieren hier Spielzeuge, Schuhe, Bekleidung, Elektronik und Möbel preiswert für den Weltmarkt, weshalb die Region den Spitznamen "Werkbank der Welt" bekam. Heute produziert die Provinz Guangdong (83 Millionen Einwohner plus 30 Millionen Wanderarbeiter) mit dem Perlflussdelta als ihrem industriellem Zentrum 30 Prozent aller Exporte Chinas. HAN

Dieser "Urlaub" ist unbezahlt und unbefristet. "Uns wurde gesagt, man würde uns vielleicht nach dem chinesischen Neujahrsfest Ende Januar anrufen", berichtet Cheng. Bis dahin sind es noch zwei Monate. Auf die Frage, was sie jetzt in ihrem Heimatdorf machen werden, lacht sie im Chor mit ihren zwei Freundinnen: "Landwirtschaft!". Die in der Stadt heimisch gewordenen jungen Frauen können sich längst nicht mehr auf den elterlichen Äckern vorstellen. "In unserem Dorf leben nur noch Alte und Kleinkinder, alle anderen sind zum Arbeiten weggezogen", sagt Cheng.

Wie sie und ihre Kolleginnen verlieren momentan täglich zehntausende Wanderarbeiter im Perlflussdelta ihre Jobs. Weil die Lebenshaltungskosten hier viel höher sind als in ihren Heimatdörfern, ziehen sie erst mal dorthin zurück. Oft kommt es vorher zum Streit um Abfindungen. "Die Wanderarbeiter haben Anspruch auf eine Abfindung von einem Monatsgehalt, hinzu kommt die einmonatige Kündigungsfrist. Es geht also um zwei Gehälter", sagt die Sozialarbeiterin und unabhängige Gewerkschaftsaktivistin Da Meng*. Sie klärt Wanderarbeiter über ihre Rechte auf. "Meist werden keine Abfindungen gezahlt, oft nicht einmal ausstehende Löhne", sagt Da. Wanderarbeiter seien schwer zu motivieren, für ihre Rechte zu kämpfen. Meist zögen sie schnell weiter und könnten oder wollten nicht Monate ausharren. Um Proteste zu vermeiden, zahlen die Behörden gelegentlich sogar die Abfindungen, sagt Da. Sie sei stolz, dass kürzlich hundert von ihr betreute Arbeiter mittels Sitzstreiks ihre Abfindungen erkämpfen konnten.

Nach offiziellen Angaben schlossen von Januar bis September allein in Guangdong 50.000 kleine und mittlere Unternehmen. Gestiegene Lohn- und Energiekosten sowie die Aufwertung der chinesischen Währung sorgten schon vor dem Durchschlagen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise dafür, dass viele Firmen schließen mussten. Das war nicht einmal unwillkommen. Denn Guangdongs Provinzregierung möchte, dass die dortige Industrie eine höhere Stufe der Wertschöpfung erreicht. Sie setzt auf Hightech statt Billigproduktion.

Auch Dongguan, das Zentrum der exportorientierten Billigproduktion, feilt an einem neuen Image. Die durch die Arbeit von Millionen Migranten zu Reichtum gekommene Stadt, in der dreimal mehr Wanderarbeiter als Einheimische leben, hat sich in den letzten Jahren radikal modernisiert. Inzwischen preist sich die Industriestadt auf ihrer Homepage als "internationale Gartenstadt". Die zehnspurige Hauptstraße durch das Zentrum zieren Palmen. Am zentralen Platz von der Größe des Pekinger Tiananmen stehen imposante Regierungsgebäude. Die Stadt hat ein modernes Theater, eine neue Stadtbibliothek, Dutzende eleganter Apartmenttürme, dazwischen gibt es Händler von Land Rovern, Jaguar- und anderen Luxusautos sowie Filialen von Wal-Mart und Metro. Aus dem begrünten Zentrum wurden die meisten Fabriken inzwischen in Industriezonen entlang den neuen Autobahnen am Stadtrand umgesiedelt. Diese Industriegebiete sehen modern aus. Klitschen und heruntergekommene Fabriken, die schon optisch als sogenannte Sweatshops zu erkennen sind, sind in der Minderzahl.

Jetzt sind mit der Krise in den USA und Europa auf einmal alle exportabhängigen Betriebe gefährdet. Der Chef des Hongkonger Industrieverbands schätzte kürzlich, dass ein Viertel der im Hongkonger Besitz befindlichen Betriebe im Perlflussdelta wegen der Krise schließen werden. Hongkonger Firmen sind in der Region die größten Investoren und ihr Wirtschaftsmotor. Ansonsten lebt die Region von ausländischen Investitionen und einer boomenden Privatwirtschaft, die sich der Millionen Wanderarbeiter bedient. Am schwersten sind kleine chinesische Firmen mit wenig Eigenkapital betroffen. Doch traf es bereits auch größere. Mitte Oktober kam es in Dongguan zu ersten Protesten, als eine Hongkonger Spielzeugfirma 7.000 Arbeiter entließ. Sie hatten bisher Spielzeug für Mattel und Hasbro fabriziert. Ende November verwüsteten entlassene Arbeiter die Büroräume eines weiteren Betriebes in Dongguan beim Streit über Abfindungen und warfen Polizeiautos um.

Offizielle Zahlen zur momentanen Entlassungswelle gibt es nicht. Doch herrscht kein Zweifel darüber, dass die Lage ernst ist. Mitte November reiste Ministerpräsident Wen Jiabao in Dongguans Nachbarstadt Shenzhen. Er appellierte an die Arbeiter, friedlich zu bleiben, forderte von den Behörden angemessene Reaktionen und von den Firmen den Verzicht auf Entlassungen. Seine Regierung verkündete ein Konjunkturprogramm von umgerechnet 460 Milliarden Euro. Der Binnenmarkt soll durch Infrastrukturinvestitionen belebt und Chinas Exportabhängigkeit reduziert werden. Dennoch geht die Weltbank in ihrer jüngsten Prognose für China nur noch von einem Wirtschaftswachstum für 2009 von 7,5 Prozent aus (2007: 11,9 Pozent). Was für westliche Verhältnisse ein großer Boom ist, wäre für China der niedrigste Wert seit 1990. Er liegt unterhalb der als magisch angesehenen Grenze von 8 Prozent. Dieser wird für die Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität für nötig erachtet.

"Die Arbeiter sind wütend", sagt Xiao Qiang. "Sie haben keine Fehler gemacht, doch jetzt fürchten sie Entlassungen." Der 28-Jährige aus der Provinz Hubei ist seit einem halben Jahr Wachmann in einer Sojasaucenfabrik in Dongguan und leitet dort ohne Wissen der Firmenleitung eine unabhängige Gewerkschaftszelle. "Als Wachmann, der die Arbeiter beim Verlassen der Fabrik kontrollieren muss, bekomme ich deren Stimmung und Probleme direkt mit", sagt Xiao bei einem Treffen in einem Restaurant. Er arbeitet seit sechs Jahren in Guangdong, meist in der Bekleidungsindustrie. Die vielen Überstunden waren ihm zu anstrengend geworden. Der Job als Wachmann sei außerdem wegen der vielen Kontaktmöglichkeiten besser geeignet zur Beratung und Organisierung der Wanderarbeiter. "Die Firmen drängen die Wanderarbeiter mit dem Versprechen auf einen anderen Job, selbst zu kündigen. So umgehen sie die vorgeschriebenen Abfindungen", berichtet Xiao. In seiner Fabrik mit tausend Mitarbeitern gebe es bisher keine Massenentlassungen, vielmehr würden täglich einige Wanderarbeiter ihre Jobs verlieren.

Xiao ist wie die Sozialarbeiterin Da auf die offizielle, von der Kommunistischen Partei kontrollierte Gewerkschaft nicht gut zu sprechen. "In den Fabriken sind die Gewerkschaftsführer meist mit der Firmenleitung identisch", klagt Da. "Deshalb setzen sie sich nicht für die Arbeiter ein." Letzteres bestreitet Chen Weiguang. Er ist der Gewerkschaftsboss in der Provinzhauptstadt Guangzhou. 2,3 Millionen der 4 Millionen Arbeiter der Stadt seien in seiner Gewerkschaft organisiert, darunter die der Staatsbetriebe, aber auch eine halbe Million Wanderarbeiter. Der 56-jährige frühere Chemiearbeiter sitzt seit 2002 auch im Volkskongress der Stadt. "Es ist heikel, wenn die Gewerkschaften in den Betrieben von den Firmenchefs geführt werden", räumt Chen ein. Deshalb sei dies jetzt auch verboten worden. Doch es würde noch drei Jahre bis zur Umsetzung dauern.

Zahlen über entlassene Arbeiter kann auch Guangzhous Gewerkschaftsboss nicht nennen. Die Lage sei nicht so schlimm wie in Dongguan, weil Guangzhou früher mit Reformen begonnen habe. Dass unrentable Klitschen jetzt schließen müssen, bedauert er nicht. "In manchen dieser Fabriken sind die Arbeitsbedingungen wirklich schlimm", sagt Chen. "Wir wollen sie nicht um jeden Preis erhalten. Das tut weh, aber daran führt kein Weg vorbei."

Bedauerlicher findet Chen, dass bereits beschlossen wurde, den Mindestlohn 2009 nicht zu erhöhen. 2008 war er gegenüber 2007 um 10 Prozent auf umgerechnet 100 Euro gestiegen. 90 Prozent der Betriebe würden sich an den Mindestlohn halten, sagt Chen. Dieser Lohn reiche nur mit vielen Überstunden überhaupt zum Überleben, meinen die unabhängigen Aktivisten Xiao und Da.

Einig sind sich alle Beobachter darin, dass das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise für die Volksrepublik erst im Februar nach dem zum chinesischen Neujahrsfest üblichen Urlaub sichtbar wird. Dies gilt auch für Cheng Yi und ihre Kolleginnen vor Dongguans Ostbahnhof. Auf die Frage, ob sie denn wirklich mit einem Anruf ihrer Firma rechne, druckst Cheng herum. Dann sagt sie, wie um sich Mut zu machen. "Ich habe meine Handynummer hinterlassen."

* Name von der Redaktion geändert

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