Überhangmandate zur Bundestagswahl: "Spektakuläre Mehrheit"

Am Sonntag könnte es ohne Stimmenmehrheit für Schwarz-Gelb reichen, wenn die CDU viele Überhangmandate erringt. Die Grünen mobilisieren jetzt für die SPD-Kandidaten.

Schwarze Sorgen bei den Grünen und Roten: Dank der Überhangmandate könnte Schwarz-Gelb bei der Wahl eine Mehrheit erringen. Bild: dpa

BERLIN taz | Nur eines ist fünf Tage vor der Bundestagswahl sicher: Es wird knapp werden. So knapp, dass von einer Feinheit des Wahlrechts abhängen könnte, welche Koalition in den kommenden vier Jahren das Land regiert. Weil die Union voraussichtlich besonders viele Direktmandate erringen wird, könnte sie deutlich mehr Bundestagssitze besetzen, als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis im jeweiligen Bundesland zustehen. SPD und Opposition laufen Sturm gegen diese Wahlrechtsregelung, deren frühere Abschaffung sie nicht verhindert haben. Nun wollen die Grünen in wackligen Wahlkreisen fürs Erststimmen-Kreuzchen für die SPD werben.

Mit 21 Überhangmandaten könne die Union am kommenden Sonntag rechnen, hat der Politikprofessor Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen ausgerechnet. Vorausgesetzt, die Meinungsforscher liegen mit ihren aktuellen Berechnungen richtig. Bei Infratest dimap geht man sogar davon aus, es könnten "sehr viel mehr Überhangmandate" für die Union zustande kommen "als 20". Insgesamt gibt es 299 Bundestagswahlkreise.

Weil die SPD voraussichtlich nur sehr wenige Überhangmandate erringen wird, könnten Union und FDP eine klare Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag stellen, selbst wenn sie deutlich weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten haben. Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht zwar bereits 2008 für grundgesetzwidrig erklärt, dem Gesetzgeber jedoch Zeit für eine Änderung bis Mitte 2011 eingeräumt (siehe rechts).

In vielen Wahlkreisen ist die Entscheidung, wer das Direktmandat erringt, derzeit noch offen.

Insgesamt ist zurzeit in 100 Wahlkreisen ein knappes Rennen zu erwarten, da der Vorsprung zwischen dem Erst- und dem Zweitplatzierten gering ist. Das jedenfalls prognostizieren die Wahlbeobachter von Election.de in ihrer jüngsten Berechnung vom vergangenen Wochenende. 131 Wahlkreise können momentan für eine Partei als sicher gelten, darunter 116 für CDU und CSU und 15 für die SPD.

Nach jetzigem Stand könnten laut Berechnungen von Election.de insgesamt 201 Wahlkreise an CDU und CSU gehen. Die SPD käme demnach auf 93, die Linke auf 4 und die Grünen auf einen Wahlkreis. Im Vergleich zur Vorwoche kann sich die SPD um 11 Wahlkreise auf Kosten der CDU verbessern.

Nun wollen die Grünen in Nordrhein-Westfalen tun, was in ihrer Macht steht, um Schwarz-Gelb im Bund zu verhindern. "Wir Grüne in NRW sehen nicht, dass wir einen Wahlkreis direkt gewinnen können", erklärt deren Landesvorsitzender Arndt Klocke gegenüber der taz. Zwar entscheide jeder Grünen-Kreisverband selbst über die Führung seines Wahlkampfs. "Aber in Wahlkreisen, in denen CDU und SPD Kopf an Kopf liegen, gibt es Überlegungen, eine Erststimmen-Kampagne zugunsten der SPD zu machen." "Aber als Grüne geschlossen aufzurufen, mit der Erststimme SPD zu wählen, wäre falsch", sagt Klocke. Schließlich könne eine SPD-Stimme auch zur Fortsetzung der großen Koalition beitragen.

Der Bundesverband der Grünen hat bereits die Parole ausgegeben, explizit um die Zweitstimme für die eigene Partei zu werben: ein deutliches Signal an ihre Anhänger, im Zweifelsfall dem SPD-Kandidaten die Erststimme zu geben. Die Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast fasste diese Taktik am vergangenen Wochenende so zusammen: "Jeder, der will, dass Steinmeier Kanzler wird in diesem Land, muss eines tun an diesem Sonntag: mit der Zweitstimme grün wählen. Sonst wäre es vermasselt."

Zurückhaltender zeigen sich die Grünen in Niedersachsen, wo es ebenfalls zu knappen Rennen zwischen Direktkandidaten von SPD und CDU kommen wird. "Sollten sich Grünen-Kandidaten für die SPD aussprechen, wären das Einzelfälle", urteilt die Grünen-Landesvorsitzende Stefanie Henneke.

Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering sagte am Montag in Berlin, alle Versuche der SPD, das Wahlrecht schon passend zur bevorstehenden Bundestagswahl zu ändern, seien am Widerstand von Union und FDP gescheitert. Selbst wenn die SPD mit Grünen und Linkspartei im Bundestag das Wahlrecht reformiert hätte, "wären wir im Bundesrat gescheitert", sagte Müntefering. Wenn Schwarz-Gelb nach der Wahl nur wegen der Überhangmandate eine Mehrheit bekomme, sei dies "spektakulär". Allerdings sei auch diese Regierung, so Müntefering, "nicht illegitim".

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) warf der SPD laut Leipziger Volkszeitung Doppelmoral vor. Die Diskussion über die Legitimität der Überhangmandate werde geführt, "bloß weil die SPD Schiss hat, weil sie die Wahlen verliert".

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