Kontingentflüchtlinge: Sehnsucht nach München

Die Familie Al-Rawi gehört zu den 2.500 irakischen Flüchtlingen, die Deutschland dauerhaft aufnehmen will. Im Juni sind sie angekommen, jetzt büffeln sie Deutsch. Die Al-Rawis werden es schaffen.

Auch die Familie Al-Rawi bekam im Grenzduchgangslager Friedland bei Göttingen ihre erste Unterkunft. Bild: dpa

FRIEDLAND/AUGSBURG taz | Ein Teil der Erinnerungen steckt in einem kleinen blauen Karton, in dem früher ein Puzzle war. Hakim Al-Rawi kramt darin herum, dann zieht er eines der Fotos heraus. Auf dem unscharfen, verblichenen Bild sind zwei Menschen zu sehen, die in weiße Gewänder gehüllt an einem Flussufer sitzen. Ihre Beine baumeln im Wasser. "So haben wir Hochzeit gefeiert", sagt Hakim Al-Rawi auf Arabisch. "Man wird getauft." Er ist rechts im Bild zu sehen, links neben ihm sitzt Iman, seine Frau. Aufgenommen wurde das Foto vor 26 Jahren in Bagdad.

Hakim Al-Rawi legt das Foto in den Karton zurück. Dann holt er ein Gebetbuch mit arabischer Schrift, das in ein weißes Tuch gewickelt ist, schließlich zwei Plastikkärtchen. Eines ist mit seinem Foto versehen, das andere mit dem seiner Frau. "Das sind unsere religiösen Ausweise", sagt der Iraker. "Die haben alle Mandäer". Die Al-Rawis sind Mitglieder einer religiösen Minderheit, die weder muslimisch noch christlich ist. Mandäer sind Anhänger von Johannes dem Täufer. Eines ihrer Rituale ist die Taufe in fließenden Gewässern, die immer wieder vollzogen wird.

"Du dreckiger Mandäer"

Bei ihrer Hochzeit im Jahr 1983 konnten die Al-Rawis ihren Glauben im Irak noch relativ frei ausüben. Mehr als 20 Jahre später klopfte ein Mann an ihre Tür, vermutlich Mitglied einer islamistischen Terrorbande: "Du dreckiger Mandäer", drohte er. "Verlasst das Land oder jemand aus deiner Familie wird entführt." 2007 flohen die Al-Rawis nach Syrien. Seit sechs Monaten leben sie in Deutschland, das sich nach zähem Ringen im vergangenen Jahr entschlossen hat, 2.500 Iraker dauerhaft aufzunehmen.

Hakim Al-Rawi ist 52 Jahre alt, zum dunklen Anzug trägt er ein wollweißes Hemd und Krawatte. Es ist Mitte Dezember, draußen vor dem Übergangswohnheim für Flüchtlinge im bayerischen Augsburg weht ein kalter Wind. Der Vater sitzt auf dem einzigen Stuhl in dem Raum, der nachts auch das Schlafzimmer seiner drei Töchter ist. Seine Frau Iman ist 48 Jahre alt, die Tochter Dhifaf 20, ihre Schwester Balsam ist 17 und Atyaf, die Jüngste, 16. Sie sitzen auf den Betten. Gemeinsam mit einem Ehepaar, das auch aus dem Irak geflohen ist, sind die Al-Rawis in einer kleinen Dreizimmerwohnung untergebracht. Sie haben zwei Zimmer, das Ehepaar eins, die kleine Küche und das Bad werden geteilt.

Ein Haus in Bagdad

In Bagdad hatte die Familie ein großes Haus mit Garten, jede der Töchter hatte ein Zimmer. Der Vater, ein Elektroingenieur, arbeitete im Ministerium für Verkehr und Kommunikation, die Mutter als Grundschullehrerin. Die Mädchen gingen zur Schule und wollten studieren. Mandäer gehörten im Irak traditionell zur gebildeten Mittelschicht. "Uns ging es gut", sagt Dhifaf, die 20-Jährige. Sie hat die Schule im Irak abgeschlossen und will Ärztin werden. Von wirtschaftlichen Problemen und der Unterdrückung der religiösen Minderheiten durch Diktator Saddam Hussein spürten die Al-Rawis zunächst nicht viel.

Als die Vereinten Nationen nach dem Einmarsch der Iraker in Kuwait Anfang der Neunzigerjahre Sanktionen verhängten, wurde es wirtschaftlich eng im Land. Das Gehalt aus dem Ministerium reichte nicht mehr. "Selbst Eier waren plötzlich teuer", erinnert sich Hakim Al-Rawi. Er verließ das Ministerium und machte sich als Goldschmied selbstständig. Das Handwerk hatte er - wie traditionell viele Mandäer - von seinem Vater gelernt. Richtig schlimm aber sei es erst nach dem Sturz Saddams im April 2003 geworden.

In den Jahren danach wurden Bedrohungen, Entführungen und Anschläge islamistischer Terrorgruppen immer alltäglicher. Die Mandäer, so heißt es bei Amnesty International, seien eine der ersten Gruppen gewesen, die Opfer von Übergriffen wurden. In Berichten der Menschenrechtsorganisation ist von Morden und Vergewaltigungen, von Verschleppungen, Entführungen und Zwangsbeschneidungen von Mandäern die Rede. Die heute 17-jährige Balsam wurde von einer Bombe, die in der Nähe ihres Hauses explodierte, am Fuß verletzt, der Vater bei einem Überfall angeschossen. Geld und Schmuck im Wert von 36.000 Dollar wurden dabei geraubt.

Iman Al-Rawi bringt frischen Tee, ihr Mann bückt sich, zieht Schuhe und Strümpfe aus. Dann zeigt er auf die Narben auf seinem Knöchel, die von dem Überfall geblieben sind. "Manchmal haben wir uns aus Angst tagelang nicht aus dem Haus getraut", sagt er. Seine Eltern und acht Geschwister verließen das Land, sie leben heute in Schweden und Holland. Beide Staaten nehmen seit Langem jährlich eine festgelegte Anzahl Flüchtlinge dauerhaft auf. "Imans Vater lebt noch im Irak, er ist ein alter Mann und schafft die Reise nicht mehr", sagt Hakim Al-Rawi und fügt dann langsam hinzu: "Einer ihrer Brüder wurde entführt. Er ist noch immer verschwunden."

Von den rund 50.000 Mandäern, die es vor dem Sturz Saddam Husseins im Irak gab, leben nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen heute noch 5.000 dort.

Hoffen in Damaskus

Im November 2007 flohen die Al-Rawis nach Syrien, insgesamt 1,5 Millionen irakische Flüchtlinge strandeten hier. In Damaskus mieteten sie eine Wohnung, die heute 20-jährige Dhifaf fand einen Job in einer Buchhandlung. Die Familie lebte vom Ersparten, Dhifafs Gehalt und Unterstützung der Verwandten aus Europa. Von der UN kamen Lebensmittel, vom Roten Kreuz Medikamente. Dann begann das Warten. Denn wer sich nicht auf eigene Faust nach Europa, Australien oder die USA durchschlagen wollte, hat versucht, einen der raren Plätze in einem Resettlement-Programm der UN zu ergattern, das eine langfristige Perspektive im Aufnahmeland verspricht. Doch das ist schwierig - und dauert.

Die Al-Rawis wollten nach Deutschland. Ihre älteste Tochter, die mit nach Damaskus geflohen ist, lebt inzwischen hier. Sie hat einen Verwandten einer Freundin geheiratet, der schon vor acht Jahren nach Deutschland gekommen war, und ist ihm nach Olching, einem Vorort von München, gefolgt. In der bayerischen Landeshauptstadt gibt es inzwischen eine kleine mandäische Gemeinschaft, wie groß sie ist, weiß man nicht. Auch deshalb ist München das Ziel der Al-Rawis. Das sagten sie auch dem Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, der die Familie während eines insgesamt vier Monate dauernden Auswahlprozesses in der deutschen Botschaft in Damaskus interviewte. Als Sicherheitsprüfung und Gesundheitscheck gut ausgingen, war klar: Die Al-Rawis können nach Deutschland ausreisen. München rückte näher.

Anderthalb Jahre nach ihrer Ankunft in Syrien, am 24. Juni 2009, fliegen die fünf von Damaskus nach Hannover-Langenhagen. Von dort bringt sie ein Bus in das Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen. Friedland, das ist ein riesiges Gelände mit insgesamt 55 Gebäuden, Ende der Achtzigerjahre kamen hier jährlich bis zu 150.000 Spätaussiedler an. Seitdem die Bundesregierung die Bedingungen für ihre Einwanderung erschwert hat, gehen die Zahlen zurück. Im vergangenen Jahr waren es noch gut 4.000. Nun werden die irakischen Flüchtlinge zur Erstaufnahme hierher gebracht. Für knapp zwei Wochen sollte es das erste Zuhause der Al-Rawis in Deutschland werden.

Warten in Friedland

Eine Woche nach ihrer Ankunft waren sie zu einem ersten Treffen bereit. Haus 7 im Grenzdurchgangslager Friedland ist ein einstöckiger Zweckbau, zerteilt von einem langen, hellgelb gestrichenen Gang. Ganz am Ende, im letzten Zimmer rechts, waren die Al-Rawis untergebracht.

Statt Anzug und Schlips wie einige Monate später in Augsburg trug Hakim Al-Rawi einen blaugrauen Trainingsanzug und Schlappen. Dhifaf brachte weiße Tassen und Wasser in einer Plastikflasche für den Besuch. Drei Etagenbetten standen in dem kleinen Raum, oben lagen dicke dunkelblaue Koffer, in den Betten unten die beiden jüngsten Töchter der Al-Rawis, Atyaf und Balsam. Zu sehen waren sie nicht. Vom Kopf bis zu den Zehen hatten sie sich unter weißen Bettdecken versteckt. Es war Mittag, draußen war es schwül. Eine gute Stunde dauerte das Gespräch, die beiden Mädchen rührten sich nicht, sie redeten kein Wort. "Sie sind müde", sagte Iman Al-Rawi, die Mutter.

Gemeinsam mit ihrem Mann erzählten sie vom Irak und von Syrien, lobten die frische Luft in Deutschland, die Sicherheit und die Menschenrechte hier, und dass Strom und Wasser immer verfügbar sind. Vor allem aber betonten die beiden Iraker immer wieder: "Wir wollen schnell Deutsch lernen. Die Kinder sollen zur Schule gehen. Und dann wollen wir alle arbeiten." Die Al-Rawis wollten ankommen in Deutschland, sich integrieren.

Die Bedingungen dafür sind bei den Irakern aus dem Resettlement-Programm deutlich besser als bei anderen Flüchtlingen. Sie müssen nicht das normale Asylverfahren durchlaufen, sondern bekommen gleich zu Beginn Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, einen Sprachkurs und Anspruch auf Hartz IV.

Immerhin nach Augsburg

Eine Woche nach dem Gespräch werden die Al-Rawis verteilt, wie es im Amtsdeutsch heißt. Die Behörden schickten sie nicht in ihre Wunschstadt München, aber nach Augsburg. Das sind nur 60 Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt, mehrmals stündlich fährt ein Zug. München rückt in greifbare Nähe.

Seit Mitte Juli besuchen die drei Töchter einen Integrationskurs im Augsburger Universitätsviertel, die Eltern konnten damit aus organisatorischen Gründen erst im Oktober beginnen. Viereinhalb Stunden täglich lernen zwölf Jugendliche und junge Erwachsene hier zusammen Deutsch, viele von ihnen stammen aus dem Irak, aber auch ein Russe und eine Rumänin sind dabei. "Sie sind alle in der gleichen Altersstufe und haben das gleiche Niveau", sagt Ute Caian-Kendi, die Sozialarbeiterin vom Diakonischen Werk, die die Al-Rawis betreut. "Das ist ganz wichtig für den Erfolg." Caian-Kendi ist sich sicher: Dhifaf, Balsam und Atyaf werden ihren Weg gehen. "Sie haben gute Bedingungen." Dass die Familie geschlossen in Deutschland ist, gehört für die Sozialarbeiterin ebenso dazu wie ihre Bildung und ihr klares Ziel. "Die wissen, was sie wollen." Dies gelte auch für die Eltern. "Aber sie werden es schwerer haben. Das ist fast immer so."

Sechs Monate sind die Al-Rawis inzwischen in Deutschland, in Augsburg ist es kalt geworden und winterlich. Fragt man die drei Töchter jetzt nach ihren Wünschen, hört man: Schule, Studium, Arbeiten. Dhifaf will in München Medizin studieren. Aus dem Irak hat sie eine Hochschulzulassung, das Zeugnis ist ins Deutsche übersetzt. Jetzt will sie es zur Anerkennung einreichen. Wirkliche Zweifel, dass sie ihren Wunsch auch in die Tat umsetzen wird, hat die junge Irakerin nicht. "Ich muss nur Deutsch lernen", sagt sie selbstbewusst. Das mache sie in rasantem Tempo, erzählt Sozialarbeiterin Caian-Kendi. Dhifaf stört, dass sich ihre Mitschüler in den Pausen auf Arabisch unterhalten. "Wir sollten Deutsch sprechen, dann lernen wir schneller", sagt sie langsam auf Deutsch.

Atyaf und Balsam, die sich vor einem halben Jahr noch unter ihren Decken versteckt haben, erzählen, dass sie weiter zur Schule gehen wollen. Doch unter die Schulpflicht fallen sie mit 16 und 17 Jahren nicht mehr. "Aber wenn sie gut Deutsch sprechen, können sie das Abitur über die OBS machen", sagt Caian-Kendi und meint damit die Otto-Benecke-Stiftung. Diese unterstützt Aussiedler und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung unter anderem dabei, ein Studium aufzunehmen. Balsam will Rechtsanwältin werden, Atyaf ist noch unschlüssig. Über Männer, Hochzeiten und Kinder spricht keine der Schwestern, wenn man nach ihrer Zukunft fragt.

Ihr Vater hätte gern, dass sie Mandäer heiraten, denn wenn ihr Partner andersgläubig ist, können sie keine Mandäerinnen mehr sein. Maisam, die Tochter in München, hat einen Mandäer zum Mann. Und wenn eine der Töchter sich in einen Christen verliebt? "Kein Problem für mich", sagt Dhifaf und lacht. Ihr Vater hingegen guckt ernst. "Keinen Muslim", wehrt er ab. "Aber wenn sie einen Christen liebt, dann soll sie ihn auch heiraten", sagt er dann. Die Dolmetscherin nimmt ihm das nicht ganz ab. "Er ist ein traditioneller und konservativer Mann", sagt sie so leise, dass die Al-Rawis sie nicht verstehen können.

Die Fahrkarte war ungültig

Bei frischem Tee und Gebäck erzählt der Vater dann aufgebracht, dass er beim Schwarzfahren erwischt worden ist. Er hat eine Monatskarte gekauft, die erst ab dem nächsten Tag galt, und das nicht bemerkt. Er hat die Hinweise auf dem Automaten nicht verstanden. "Man müsste uns mehr Informationen geben", sagt er immer wieder. "Eine Broschüre mit praktischen Tipps oder einen Kurs." Die Al-Rawis wollen nicht anecken, sie wollen sich einfügen. "Wir wollen endlich in Ruhe und Frieden leben", sagt Iman Al-Rawi, seine Frau. Später, draußen ist es schon dunkel, merkt man erstmals Ungeduld. "Wir sind eine fünfköpfige Familie, hier ist zu wenig Platz", sagt Hakim Al-Rawi. "Wir brauchen vier Zimmer." Und die sollen unbedingt in München sein. Wegen Maisam, der Tochter, und den anderen Mändäern.

Wegen ihrer Religion mussten die Al-Rawis den Irak verlassen. Zur Ausübung des Glaubens braucht man eine Gemeinschaft, sagt Hakim Al-Rawi. In Augsburg gibt es diese nicht. Doch in München wird hin und wieder mit einem Geistlichen aus den Niederlanden oder Schweden sogar eine Taufe in der Isar zelebriert.

Seit Wochen schon sucht die Familie mithilfe ihrer ältesten Tochter dort eine Wohnung, inzwischen hat sie einen Makler eingeschaltet. Doch billiger Wohnraum ist in München knapp, für Hartz-IV-Empfänger sind die Aussichten schlecht. "Wenn es nicht bald klappt", sagt der Vater, "dann müssen wir in Augsburg bleiben." München rückt in die Ferne. Zum ersten Mal wirkt Hakim Al-Rawi resigniert.

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