Datenhygiene: "Dem Vergessen eine Chance geben"

Ob Amazon, Google oder Facebook - das Internet merkt sich alles. Darum fordert Forscher Viktor Mayer-Schönberger ein Verfallsdatum für Daten.

Datenhygiene? Sagrotan hilft da nicht. Bild: dpa

taz: Herr Mayer-Schönberger, Amazon speichert Kundendaten. Was finden Sie daran verwerflich?

Viktor Mayer-Schönberger: Dass der Nutzer keine Ahnung mehr hat, was Amazon über ihn weiß. Auch wenn ich kein Buch kaufe, sondern einfach nur durch den Amazon-Store surfe, werden Informationen über mich gespeichert. Praktisch alle eCommerce-Anbieter zeichnen den Klickstream auf, also jene Daten, die entstehen, wenn ich auf bestimmte Angebote auf einer Website klicke. So entsteht mit der Zeit ein gutes Bild von meinen Surfgewohnheiten und meinen Vorlieben.

Der Politik- und Internet-Professor lehrt an der National University Singapur und war zuvor an der US-Eliteuniversität Harvard tätig. Er forscht zu gesellschaftlichen und politischen Problemen im digitalen Zeitalter. Zuletzt veröffentlichte der gebürtige Österreicher das Buch "Delete. The Virtue of Forgetting in the Digital Age".

Na und? Die Leute haben sich doch offensichtlich daran gewöhnt, für eine preiswerte Dienstleistung ihre Daten preiszugeben.

Das glaube ich eben nicht. Die meisten Kunden von Amazon wissen nicht, dass ihre Browsing-Information aufgezeichnet wird. Und die Leute sind sich nicht darüber im Klaren, dass die Information auch weitergegeben werden kann. Und das kann Konsequenzen haben: Wenn ich mich etwa über Bücher zum Thema Aids-Selbsthilfe informiere, dann könnte das auch meine Kranken- oder meine Lebensversicherung interessieren. Oder meinen Arbeitgeber. Ich habe kürzlich den "Baader-Meinhof-Komplex" bei Amazon gekauft. Bin ich dadurch jetzt in eine Profilgruppe reingerutscht, laut der ich mit Terroristen sympathisieren könnte? Und kann diese Information auf Abruf auch dem Staat weitergegeben werden?

Sie sind selbst Amazon-Kunde? Trotz allem?

Absolut. Sehen Sie: Natürlich könnten wir das Netz boykottieren, aus Angst um unsere Daten. Aber damit schaden wir uns mehr als dem Netz. Digitale Abstinenz ist eine süße Idee, aber im digitalen Zeitalter nicht realistisch. Deshalb die digitalen Werkzeuge nicht mehr zu verwenden, die uns so viel Nutzen bringen, das macht keinen Sinn. Das ist auch keine Basis für eine notwendige gesellschaftliche Lösung. Und das hat mich mich veranlasst, zu sagen: Lasst uns doch dem Vergessen im digitalen Zeitalter wieder eine Chance geben.

Wäre es nicht besser, wenn man Konsum im Netz und soziale Netzwerke meidet?

In Großbritannien hat eine Frau ihre Arbeit verloren, weil sie bei Facebook ihren Freunden mitgeteilt hat, wie langweilig ihre Arbeit ist. Und dabei vergessen hat, dass eine ihrer Facebook-"Freundinnen" eine Kollegin war, die das dann an ihren Vorgesetzten weitergeleitet hat. Man kann natürlich sagen: Man darf in Zukunft nicht mehr sagen, wenn die Arbeit langweilig ist. Aber ist das die richtige Antwort? Sind wir wirklich bereit, in einer Gesellschaft zu leben, die nicht mehr bereit ist zu vergeben und zu vergessen?

Was ist mit Google: Ist das ein böser Konzern, dem man seine Daten nicht guten Gewissens anvertrauen kann?

Ich möchte den Unternehmen vertrauen. Aber dann erinnere ich mich an den Erzkonservativen Ronald Reagan, der in den Achtzigerjahren gegenüber der Sowjetunion gesagt hat: Trust, but verify. Und genau das kann ich heute gegenüber Google nicht: Ich kann nur vertrauen und nicht überprüfen. Ich würde mir wünschen, dass es gesellschaftliche, individuelle, vielleicht auch technische Mechanismen gäbe, festzulegen und zu überprüfen, wie lange jemand Informationen über mich aufbewahrt.

Das läuft doch den Interessen der Konzerne zuwider: Die wollen zugeschneiderte Angebote machen und brauchen dafür möglichst viele Kundendaten.

Wenn ich Amazon sagen könnte: Vergiss das bitte, das hat für mich keine Relevanz mehr, dann würden doch auch deren Buchempfehlungen besser werden - und dann hätte auch Amazon etwas davon. Denn es ist in ihrem Interesse, nicht viele Informationen über mich zu sammeln, sondern qualitativ hochwertige.

Und wie genau soll das Vergessen funktionieren?

Die brutalste Möglichkeit wäre, dass Amazon alles über mich nach relativ kurzer Zeit löscht. Aber ich fände es besser, wenn ich bestimmen könnte, wie lange solche Transaktionsinformationen verwendet werden. Wenn ich etwa bei Amazon einen Reiseführer kaufe, dann will ich sagen können: "Bitte bezieh die Information meines Kaufes nur bis zu meinem Reiseantritt in deine Empfehlungen an mich ein - aber danach nicht mehr." So geben wir dem bewussten Löschen von Informationen mehr Raum: etwa durch ein Ablaufdatum für Daten oder durch digitales Rosten, also das langsame Vergessen digitaler Information.

Also etwa so, als würde man seinen digitalen Kleiderschrank einfach mal ausrümpeln?

Ja. Um damit die Wahrscheinlichkeit herunterzusetzen, über Vergangenes zufällig drüberzustolpern. Wenn ich Fotos aus meiner Kindheit auf meinen Dachboden stelle, bleiben sie erhalten, aber ich muss bewusst hinaufgehen, um sie zu finden. Das sollten wir im Digitalen nachbilden - ob mittels Ablaufdatum oder durch ein immer schwieriger werdendes Auffinden kaum benötigter Daten. Wie beim menschlichen Vergessen wird so unsere Fähigkeit, etwas in der Vergangenheit zu erinnern, langsam vermindert. Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Aspekt des digitalen Vergessens: Es schützt davor, dass andere wie der Staat, Internetunternehmen oder mein Arbeitgeber die Informationen später missbrauchen.

Können die Leute einschätzen, wie lange sie Daten brauchen?

Das ist ein Lernprozess und bedarf der Übung. Wir müssen das digitale Vergessen als neue Kulturtechnik erlernen. Wichtig ist für mich, dass wir so wenigstens zwei Sekunden reflektieren, wie lange wir eine Information wirklich noch brauchen und verfügbar halten möchten. Und wenn wir uns verschätzen, können wir das Verfallsdatum nachträglich abändern.

Und wie sieht es aus mit staatlicher Datenhygiene? Das politische Klima in den USA wie in Deutschland tendiert doch zu mehr Datenspeicherung.

Momentan will der Staat immer mehr Informationen speichern. Aber ich denke, das muss sich ändern. Hier müssen auch die Userinnen und User öffentlichen Druck erzeugen. Anstatt auf die Politik zu warten, müssen wir aktiv werden, eine Bewegung schaffen, auf die die Politik dann reagieren muss. Eine Bewegung für das digitale Vergessen.

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