Herthas Absturz: Berliner Rätsel

Aus einem bewunderten Meisterschaftskandidaten wird ein allseits belächelter Krisenklub. Der Absturz des Hauptstadtklubs ist in der Geschichte der Liga beispiellos.

Herthas Trainer Friedhelm Funkel beim Spiel gegen den SC Heerenveen im Berliner Olympiastadion. Bild: dpa

BERLIN taz | Die Versuche der Hertha, zur Normalität zurückzufinden, wirken mitunter grotesk. Niederlagenserie hin oder her, mögen sich die Vereinsverantwortlichen gedacht haben - das Feiern gehört zum Leben. Also lud der Tabellenletzte der Bundesliga am Donnerstagabend vor den Stadiontoren seine Fans zur After-Work-Party ein. Jede Menge Bänke hatte man bereitgestellt. Sie blieben größtenteils unbesetzt. Genauso wie später die meisten Plätze im Olympiastadion, wo nur rund 13.000 Zuschauer das Europa-League-Spiel gegen Heerenveen sehen wollten.

Die Fans gaben sich anfangs redlich Mühe, etwas Stimmung zu entfachen. Friedhelm Funkel erinnerte hernach daran: "Die haben auch immer wieder mal Hertha gerufen." Aber nach dem Schuss des Heerenveeners Hernan Losada in der 36. Minute zum entscheidenden 0:1 herrschte eine beklemmende Stille im Olympiastadion. Fassungslosigkeit machte sich breit über das immer wiederkehrende Muster, nach dem die Berliner stets als Verlierer vom Platz gehen. Die Liste der Hertha-Bezwinger wird länger und länger. Die drei Bundesligaaufsteiger, diverse Abstiegskandidaten und ein Zweitligist zählen mittlerweile dazu. Seit Donnerstagabend auch der in der holländischen Liga im Abstiegskampf befindliche SC Heerenveen.

Verliert Hertha am Sonntag gegen den Deutschen Meister VfL Wolfsburg, hat man schon so viele Niederlagen kassiert wie in der gesamten vorherigen Saison. Verliert man die Woche drauf auch noch in Dortmund, dann egalisiert man gar den Negativrekord von Tasmania Berlin. Tasmania steht seit über 40 Jahren wie kein anderer Verein in Deutschland für das Versagen schlechthin.

"Wir müssen jetzt weiter hart arbeiten." (Christoph Janker nach Liga-Niederlage Nummer fünf gegen Mainz)

"Wir müssen jetzt umso härter an uns arbeiten." (Maximilian Nicu nach der sechsten Liga-Niederlage gegen Freiburg)

"Wir müssen mehr arbeiten, mehr kämpfen, uns mehr konzentrieren." (Extrainer Lucien Favre nach der Pokalniederlage bei 1860 München)

"Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass uns die einfachen Dinge wieder gelingen." (Interimstrainer Karsten Heine vor der Europa-League-Niederlage in Lissabon)

"Was jetzt zählt ist Arbeit, Arbeit, Arbeit." (Trainer Friedhelm Funkel nach der achten Liga-Niederlage gegen Nürnberg)

"Wir werden noch mehr arbeiten." (Derselbe nach der Europa-League-Niederlage gegen Heerenveen)

Für sich genommen ist das schon bemerkenswert genug. Denkt man jedoch an die Maitage zurück, als über 70.000 Zuschauer gegen den Abstiegskandidaten VfL Bochum ins Stadion strömten und die mögliche Meisterschaft besangen und der Club dabei war, sein Stigma des schwer Vermittelbaren abzustreifen, sieht man sich vor eines der größten Rätsel der Bundesligageschichte gestellt. Es ist eine Talfahrt, die ihresgleichen sucht.

Unter Manager Dieter Hoeneß und Trainer Lucien Favre galt Hertha noch als Verein mit Konzept und Perspektive. Wobei im Verein Hoeneß als Bremser des Visionärs Favre angesehen wurde und deshalb gehen musste. Jetzt sitzen weder Hoeneß noch Favre an den Schalthebeln. Von Konzepten spricht sowieso keiner mehr. Es geht nur noch um eines, wie der Hoeneß-Nachfolger Michael Preetz in einer Ansprache der Mannschaft Anfang der Woche verdeutlichte: um die Existenz des Vereins. Dafür dürfte man nur nach vorne und nicht zurück schauen.

Das ist leichter gesagt als getan. Hertha wird immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Der in der letzten Dekade angehäufte Schuldenberg, geschätzte 35 Millionen Euro, lastet schwer auf dem Verein. Ein Grund, weshalb man vor der Saison die nun schmerzlich vermissten Josip Simunic, Andrej Voronin und Marko Pantelic abgab, und auch ein Grund dafür, weshalb man nun diese Woche dem kürzlich beurlaubten Lucien Favre wegen angeblich vereinsschädigender Bemerkungen nachträglich die fristlose Kündigung aussprach. Hertha spekuliert darauf, am vor kurzem noch so verehrten Heilsbringer eine gute Million Euro einzusparen.

Der unbeschwerte Blick nach vorn wird den Hertha-Profis auch von den eigenen Fans verstellt. Diese Woche tauchten sie mehrmals auf dem Trainingsgelände auf, um die Spieler wegen ihrer schlechten Leistungen zur Rede zu stellen. Hertha beraumte daraufhin etliche Geheimtrainingstermine an. Die Mannschaft soll ein wenig zur Ruhe kommen.

Nach der Niederlage gegen Heerenveen gingen die Spieler dennoch in die Kurve und setzten die Endlosdebatte um Einsatz, Charakter und Laufbereitschaft fort. Eigentlich hatten die Bedauernswerten gute Argumente zur Hand. Sie waren überwiegend das bessere Team mit den besseren Chancen, und der Schiedsrichter verweigerte den Berlinern in der Nachspielzeit gar einen Handelfmeter. Entsprechend urteilte Friedhelm Funkel: "Die Mannschaft hat im Unterschied zum Nürnbergspiel nun kapiert, dass es nur über Arbeit, Kampf und Laufbereitschaft geht." Gegen Wolfsburg wolle man am Sonntag endlich einmal ein Erfolgserlebnis haben.

Diese Parolen (siehe Kasten) ziehen sich wie ein roter Faden durch die Saison. Geholfen haben sie nicht. Hertha hat das Phänomen Niederlage derweil in allen möglichen Schattierungen kennen gelernt. Die beschämend desaströse etwa (Freiburg 0:4; Hoffenheim 1:5, Nürnberg 0:3), die mit Eigentoren gespickte, tragisch-komische (1:3 Hamburg) oder die unverdiente Niederlage (Mainz 1:2, Heerenveen 0:1).

Trainer Funkel betont trotz alledem die positiven Ansätze. Er ist geübt in der Kunst des Moderierens von Niederlagen. Unter der Woche erklärte er, dass er derzeit nur die einfachsten grundsätzlichen Dinge trainieren lasse. Immer wieder. Und auch am Donnerstagabend kündete Funkel gnadenlose Wiederholungseinheiten an. "Irgendwann kommt das Erfolgserlebnis. Das dauert manchmal." Man ahnt, was Michael Preetz meinte, als er Funkel vor wenigen Tagen eine "Bierruhe" attestierte.

Es ist schon vertrackt. Das allseits erklärte Allheilmittel, um aus der Krise herauszukommen, ist gleichzeitig das ersehnte Ziel: ein Sieg. Angesichts des labilen Teams gleicht diese Aufgabe der Quadratur des Kreises. Wolfsburg wird am Sonntag der wackligen Hertha-Defensive vermutlich deutlich mehr abverlangen als Heerenveen. Fabian Lustenberger, der gegen die Holländer nach langer Verletzungspause sein Saisondebüt gab und von den Fans herzlich wie noch nie empfangen wurde, obwohl er früher nie über die Rolle des Ergänzungsspielers hinauskam, forderte: "Wir müssen am Sonntag irgendwie gewinnen. Und wenn wir uns über 90 Minuten hintenrein stellen." Wer aus welcher Distanz das Führungstor erzielen soll, hat er nicht gesagt.

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