Deutsche Leichtathletik-Misere: Die Abschaffung der zweiten Reihe

Fehlt die Konkurrenz, wird es für Leichtathleten nicht einfacher. Im Gegenteil. Von DIETER BAUMANN

Nicht ganz vorne. Tobias Unger schied bei den Olympischen Spielen im Zwischenlauf am Freitag aus. Bild: reuters

1985 fand in Stuttgart die Deutsche Meisterschaft der Leichtathleten statt. Der heutige ZDF-Reporter Wolf-Dieter Poschmann, damals über 5.000 Meter am Start, kam nach dem Vorlauf auf mich zu. "Warum hast du nichts fürs Tempo gemacht?" Keine Erklärung abwartend, fauchte er nur: "Nur Lutscher, die Jungen, nur Lutscher." Es war die Generalprobe für die EM 86. Sieben Jahre später adelte Stuttgart sich selbst, mit der stimmungsvollsten Leichtathletik-WM der Geschichte und einem "Fair Play"-gekrönten Publikum. Die La-Ola-Welle schwappte minutenlang durchs Stadion und die deutschen Leichtathleten schwammen darauf recht passabel. Diese Welle spürt man heute längst nicht mehr. Nun dümpelt die Sportart so dahin, bis auf ein paar wenige Ausreißer.

Hauptsächlich sind es Werfer und Techniker, die heute das Leistungsbild der Leichtathleten prägen. In Peking befinden sich von 100 Metern bis Marathon nur noch sieben Läuferinnen und Läufer in der Deutschen Mannschaft! Da ist keine Medaille zu erwarten. Poschmann war vielleicht 1985 deshalb so aufgebracht, weil er bei der Vielzahl der Starter ein schnelles Rennen brauchte, um sich zu qualifizieren. Es gab drei Vorläufe mit jeweils etwa 15 Teilnehmern, dazu ein 10.000-Meter-Rennen mit nochmals 20 Teilnehmern. Poschmann hatte also jeden Grund, nervös zu sein. Heute ist das anders. Die 10.000-Meter-Meisterschaft findet im Mai statt. Gerade mal 13 Männer nahmen in diesem Jahr teil. Weil beim Nachwuchs noch weniger los war - nur 9 Starter! -, legte man die beiden Rennen zusammen. Bei den im Juli stattfindenden Deutschen Meisterschaften gibt es über 5.000 Meter keine Vorläufe mehr. In diesem Jahr liefen 22 Mann diese Strecke. Die Zahl der Meisterschaftsläufer bei den Männern ist in 20 Jahren um mehr als die Hälfte gesunken. Bei den Frauen waren nur noch sechs (!) Athletinnen über 10.000 Meter am Start. Bei Landesmeisterschaften, beispielsweise beim Vorzeigeverband Baden-Württemberg, gingen aus der zweiten Reihe nur neun Frauen und sieben Männer über 5.000 Meter an den Start. Dramatisch ausgedrückt: Wir befinden uns im freien Fall. Dies hat aber nur bedingt mit der Einstellung und dem Können der jungen Athleten und deren Trainer zu tun. Sondern vor allem mit Rahmenbedingen.

In den vergangenen Jahren haben sich die Startgelegenheiten für die zweite Reihe der Athleten nicht nur verschlechtert, es gibt keine mehr. Bis vor kurzem waren Meetings in Köln, Fürth, Koblenz, Rhede, Ingolstadt die Flaggschiffe einer völlig offenen Wettkampfstruktur. Heute gibt es das nicht mehr. Die Globalisierung hat sie aus der Bahn geworfen, oder anders formuliert: der Deutsche und der Internationale Verband (DLV und IAAF) mit den strengeren Regelungen in der Sponsorenfrage. Damals fanden jede Läuferin und jeder Läufer für seine Leistungsklasse einen Wettkampf, bei dem man auf die Konkurrenz traf, die seinesgleichen war. Heute gibt es für Athleten aus der zweiten Reihe nur noch einen einzigen Wettkampf im Jahr. Ein hochkarätiges 5.000-Meter-Rennen mit Zeiten unter 13 Minuten ist für einen Läufer mit einer Bestzeit von 13:45 Minuten völlig nutzlos. Von einer qualitativen Wettkampfserie sind wir meilenweit entfernt. Leistungsentwicklungen finden aber nur durch Wettkämpfe statt. Auch die Paarung aus Cleverness und Nervenstärke kann nur hier üben. Training allein reicht eben nicht.

Immer wieder beklagen wir, dass unsere Athleten zu wenige Wettkämpfe bestreiten, und sehen: Der Preis für die Globalisierung im Leistungssport ist hoch. Ohne Gegensteuern des Verbandes wird sich dieser Prozess weiter zuspitzen. Man könnte glauben, dass mit nur sieben Startern der Boden erreicht ist. Aber es geht immer noch tiefer.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.