Seehofers nationale Verzehrstudie: Die dicke Unterschicht

Die Deutschen sind zu dick, so das Fazit der nationalen Verzehrstudie. Das gelte besonders für Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen.

Der Umkehrschluss "dick macht dumm" funktioniert natürlich nicht. Bild: dpa

Was bisher nur vage belegt war, ist nun eindeutig erwiesen: Menschen, die zur Unterschicht gehören, sind überdurchschnittlich oft dicker als der Durchschnitt. Dies ist das hervorstechende Ergebnis der Nationalen Verzehrstudie, die am Mittwoch vorgestellt wurde. "Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Bildung und Wissen auf der einen, und richtiger Ernährung auf der anderen Seite", sagte Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU).

Mit der Studie liegt erstmals eine bundesweite, repräsentative und auf Messdaten basierende Erhebung darüber vor, wie und was die Deutschen essen und welche Folgen ihr Essverhalten hat. Fast 20.000 Bürgerinnen und Bürger zwischen 14 und 80 Jahren wurden von Wissenschaftlern der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel befragt, gewogen und vermessen. Die Vorgängerstudie liegt 20 Jahre zurück, eine ähnliche Studie, der Bundesgesundheitssurvey von 1998, war weniger genau.

Die Deutschen sind zu dick, so die wenig überraschende Nachricht: Zwei Drittel der Männer sind übergewichtig, ebenso die Hälfte der Frauen. Und je niedriger der soziale Status, desto schlechter geht es dem Körper. Hauptschulabsolventen lagern laut Seehofer im Vergleich mehr Kilos an, unter ihnen finden sich fast doppelt so viele Übergewichtige wie bei Menschen mit Fachhochschul- oder Hochschulreife. Anders gesagt: Je höher der Schulabschluss, desto niedriger - und damit günstiger - liegt der Body-Mass-Index, der Gewicht und Körpergröße zueinander in Beziehung setzt. Ob man zur Ober- oder Unterschicht gehört, machen die Forscher an drei Faktoren fest: an der Ausbildung des Befragten, am Haushaltseinkommen und an der beruflichen Stellung des Hauptverdieners.

Besonders auffällig offenbart sich die Richtigkeit der Gleichung "Unterschicht gleich dicker" bei den Menschen mit Adipositas, also extremem Übergewicht mit krank machenden Folgen wie Bluthochdruck oder Diabetes. Rund ein Viertel der Männer unterer Schichten leiden daran, in der Oberschicht sind es nur 13 Prozent. Bei den Frauen fällt der Unterschied mit 35 Prozent zu 10 Prozent noch deutlicher aus. Warum vor allem die Unterschicht ihr Fett wegkriegt, war nicht Gegenstand der Studie - und die Ursachen sind weit komplexer als Lidl-Fertigpizza oder starker Fernsehkonsum.

Insgesamt sind es die Reicheren und Gebildeteren, die Bioprodukte kaufen. Einen weiteren Hinweis gibt die Risikowahrnehmung der Befragten. Bessergestellte stufen zu viel und einseitiges Essen eher als Gesundheitsrisiko ein als Schlechtgestellte. In der Unterschicht fürchtet man sich dagegen eher vor verdorbenen Lebensmitteln. Die diversen Fleischskandale machen also Eindruck - obwohl das Risiko, ein fauliges Schnitzel zu erwischen, verschwindend gering ist.

Schon die Kinder leiden unter ihrer Herkunft. Laut der Verzehrstudie hat an Haupt- und Realschulen fast jeder 10. Junge starkes Übergewicht, an Gymnasium ist es nur jeder 20. Bei den Mädchen ist das Gefälle noch deutlicher.

"Das funktioniert wie eine Spirale", sagte die ehemalige Verbraucherschutzministerin und grüne Bundestagsabgeordnete Renate Künast. "Ein übergewichtiges Kind fühlt sich in seinem Körper nicht wohl, lernt schlechter und meidet viele Orte, die für die soziale und kognitive Entwicklung wichtig sind - zum Beispiel Sportvereine." Soziale Zugehörigkeiten würden so betoniert und weitervererbt. Die Erhebung war noch von Künast in Auftrag gegeben worden.

Wie sich das große Problem in Deutschland lösen lässt, ist umstritten. Seehofer warnte vor Aktionismus: "Die Antwort auf die Studienergebnisse darf nicht eine Olympiade der Verbote sein." Die Bundesregierung setze auf einen Prozess der Information und Aufklärung. Seehofer favorisiert ein Präventionsgesetz, das verschiedenste Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge bündeln soll. Außerdem unterstützt er ausdrücklich die erneuerte Lebensmittelkennzeichnung, die die Europäische Union auf den Weg bringen will. Just am Mittwoch präsentierte die EU-Kommission einen Vorschlag, der detaillierte Angaben über Zucker-, Salz- und Fettgehalt auf der Vorderseite abgepackter Lebensmittel vorsieht.

"Wir halten fest an einer Kennzeichnung, die die Nährwerte in einem Produkt in Bezug zu einer vernünftigen Tagesration setzt", sagte Seehofer. "Sie ermöglicht den Konsumenten eine bewusste Kaufentscheidung." Damit konkurriert ein System, das in Großbritannien eingeführt wurde - dabei werden Produkte in Supermärkten mit roten, gelben oder grünen Aufklebern gekennzeichnet. Für diese leicht verständliche Variante sprechen sich Organisationen wie Foodwatch aus. Auch die Grüne Künast will diese Ampel. "Ein roter Punkt zeigt mir schnell an, dass eine Milchschnitte kein gesundes Frühstück ist, sondern eine Süßigkeit mit viel Zucker. Wer rechnet schon den ganzen Tag nach, wie viel Prozent er wovon schon konsumiert hat?" Seehofers Konzept sei zudem irreführend, weil bei Prozenten und Portionen getrickst werde, sagte Künast.

Übrigens: Auch Experten des Fachs kämpfen mit den Kilos, das illustriert das Beispiel Seehofer. Auf sein Körpergewicht angesprochen, flüchtete sich der Minister in eine vage Formulierung: "Ich bin sehr großen Schwankungen unterworfen. Es ist ein ständiger Kampf."

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