Deutschland nach dem Finanzmarktschock: In der Schwebe

Nach üppigen Rettungspaketen scheint der Systemabsturz abgewendet. Nun kommt die schlimme Krise - und die Deutschen erwarten sie mit merkwürdig gleichgültigem Pessimismus.

Erst gab es fix zusammengeschnürte Care-Pakete für die Banken, dann für die Konjunktur. Bild: dpa

15. September: Die US-Investmentbank Lehman Brothers stellt einen Insolvenzantrag, die US-Regierung verweigert eine Rettung durch Staatsgarantien. Das gilt später als großer Fehler, der die Finanzkrise erst richtig eskalieren ließ.

19. September: Die US-Regierung kündigt ein 700 Milliarden Dollar schweres Rettungspaket für die Finanzbranche an.

29. September: Für den deutschen Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate wird ein 35 Milliarden Euro schweres Rettungspaket geschnürt. Es muss nur eine Woche später auf

50 Milliarden Euro aufgestockt werden.

5. Oktober: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) verkünden eine Komplettgarantie für private Bankeinlagen.

13. Oktober: Die Bundesregierung stellt einen "Bankenrettungsschirm" im Volumen von 500 Milliarden Euro vor.

5. November: Die Bundesregierung beschließt ein rund

12 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm.

13. November: Deutschland ist offiziell in der Rezession. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte in zwei Quartalen in Folge.

16. Dezember: Bundeskanzlerin Merkel stellt für Januar ein zweites Milliarden-Konjunkturpaket in Aussicht.

21. Dezember: Der künftige US-Präsident Barack Obama plant laut Medienberichten ein Konjunkturprogramm von fast

800 Milliarden Dollar. DPA

Die Kanzlerin sagt den Satz, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. "Wenn wir wollen, dass es uns in zehn Jahren allen besser geht", beginnt sie vor den versammelten Kreisvorsitzenden der CDU die Passage, mit der sie ihre Strategie für den Wahlkampf im nächsten Jahr erläutern will. Doch der Rest des Satzes verschwindet in lautem Gemurmel. Niemand hier im Saal träumt ihn noch, den Traum vom immerwährenden Wachstum, der in den Jahren des bundesdeutschen Wirtschaftswunders geboren wurde und den sich die ostdeutsche Kanzlerin nun so umstandslos zu eigen macht.

Dabei ist die Welt noch in Ordnung an diesem ersten Freitag im September. Die Finanzkrise ist noch nicht über das Land hereingebrochen. Hier im Konrad-Adenauer-Haus sitzt nicht die politische Linke, die sonst stets den Niedergang beschwört. Selbst die Konservativen, die bislang als Letzte die Idee eines wenn auch rein ökonomischen Fortschritts hochhielten, glauben nicht mehr daran. Auch sie trauen der Politik allenfalls noch zu, den unvermeidlichen Niedergang zu verlangsamen und abzumildern.

Der Zusammenbruch kommt exakt zehn Tage später. An einem Montagmorgen Mitte September melden die Nachrichtenagenturen früh um sieben die Insolvenz der viertgrößten US-Investmentbank Lehman Brothers. Die Risiken für Deutschland seien "verkraftbar", erklärt das Bundesfinanzministerium zu diesem Zeitpunkt noch. Es sei aber nicht auszuschließen, dass die Finanzkrise Wachstum und Haushalt belasten werde.

Weitere zwei Wochen später wird klar, dass die Krise an Deutschland nicht so einfach vorbeiziehen wird. Am 29. September geben Bund und Banken bekannt, dass sie 35 Milliarden Euro für die Rettung des Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate springen lassen. 35 Milliarden Euro! Für eine Bank, die in der breiteren Öffentlichkeit kaum jemand kennt, auch wenn sie bis dahin zu den DAX-Konzernen zählte. Bis dahin galt als großer Haushaltsposten etwa die Erbschaftssteuer, die insgesamt vier Milliarden Euro einbringt.

Es sind neue Vokabeln, die man lernen muss. Von "Rettungspaketen" ist die Rede, die jetzt "geschnürt" werden müssen. Es klingt nach den Care-Paketen, die das ruinierte Land in der Nachkriegszeit erreichten. Oder nach den Hilfssendungen, die Bundesbürger Anfang der 80er-Jahre nach Polen schickten. Ein Päckchen Kaffee, ein paar Tafeln Schokolade: Das Prinzip, nach dem einige Wochen später dann "Konjunkturpakete" geschnürt werden. Nur dass der Kaffee immer gleich Milliarden kostet.

Bis zum nächsten Schock dauert es dann nur noch eine knappe Woche. Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) treten an einem Sonntagnachmittag im Berliner Kanzleramt vor die Fernsehkameras. "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind", sagt Merkel. Steinbrück fügt hinzu: "Ich möchte unterstreichen, dass wir dafür Sorge tragen wollen, dass die Sparerinnen und Sparer in Deutschland nicht befürchten müssen, einen Euro ihrer Einlagen zu verlieren."

Es sind Sätze, die nach der Inflation von 1923 klingen, nach der Währungsreform von 1948 - oder den Bankencrashs in der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er-Jahre. Sätze, die beruhigen sollen. Und die den Zuhörern doch erst deutlich machen, wie ernst die Lage ist. Es ist fast erstaunlich, dass nicht am Montag nach dem Auftritt der Ansturm auf die Banken beginnt. Nicht eben vertrauenerweckend erscheint auch die Bitte des Regierungssprechers an die Journalisten, die Wirkung der Garantieerklärung nicht durch Nachfragen zu schmälern, woher der Staat im Fall der Fälle das viele Geld denn nehmen solle.

Der Tag markiert den Höhepunkt der Krise. Das Erstaunlichste daran ist, wie gelassen die Deutschen das plötzliche Ende aller Sicherheiten einfach hinnehmen. Gelassener jedenfalls als den boombedingten Anstieg des Benzinpreises auf 1,50 Euro wenige Monate zuvor. So gelassen, wie sie in den zwanzig Jahren zuvor schon hingenommen hatten, dass die Realeinkommen hierzulande weitgehend stagnierten - während sie in anderen europäischen Ländern kräftig stiegen. Das war, im Nachhinein betrachtet, kein Sympton einer typisch deutschen Krise, sondern einer Angleichung des Lebensstandards in Europa. Jetzt sitzen in den Charterfliegern nicht nur Deutsche auf dem Weg ans Mittelmeer, jetzt reisen auch Spanier und Italiener nach Berlin. Vielleicht bezeichnet der Tag, an dem die Deutschen der Bankenkrise ohne Anflug von german angst ins Auge sehen, das wahre Ende ihres Sonderwegs.

In den folgenden Tagen wird klar, dass Rettungsaktionen für einzelne Banken nicht mehr genügen. Ein weiteres Paket wird geschnürt, diesmal für eine ganze Branche. Kreditbürgschaften und Kapitalhilfen von bis zu 500 Milliarden Euro, fast das Doppelte eines jährlichen Bundeshaushalts. Das Programm wird Mitte Oktober innerhalb weniger Tage im Eilverfahren beschlossen, wie zuvor nur die Gesetze gegen RAF-Terror und BSE-Seuche.

Die Politik hält für einen Moment den Atem an. "Es wird nachher nie mehr so sein, wie es vorher war", sagt Unions-Fraktionschef Volker Kauder. So ernst ist die Lage, dass sogar Linken-Chef Oskar Lafontaine staatstragend wird. Das Rettungspaket sei "in der Sache nicht zu kritisieren", sagt er im Bundestag.

Antikapitalisten sind plötzlich alle, außer der FDP, die in der Bankenkrise nur ein Staatsversagen sieht. Alle haben Angst, dass die Milliardenhilfe für die Banken beim Wahlvolk nicht gut ankommt. "Wir geben nicht einen einzigen Euro aus, um einem privaten Interesse zu dienen", sagt deshalb der CDU-Politiker Norbert Röttgen. "Funktionierende Finanzmärkte sind ein öffentliches Gut." Genugtuung über die Wiederkehr des Staates mischt sich mit peinlichem Schweigen über eigene Irrtümer.

Noch am Tag der Bundestagsabstimmung unterschreibt der Bundespräsident das Gesetz zur Bankenrettung. Danach geschieht etwas Erstaunliches: Die Aufregung legt sich. Obwohl in den kommenden Wochen kaum ein Tag ohne schlechte Nachrichten aus der Wirtschaftswelt vergeht. Immer deutlicher zeichnen sich die Folgen der Finanzkrise für den Bereich ab, der jetzt mit dem seltsamen Begriff der Realwirtschaft belegt wird.

Wahrscheinlich liegt die Ursache des Gleichmuts genau hierin: Was real ist, das ist überschaubar, das kennt man, das kann man mit Händen greifen. Die Implosion des Bankensystems hatte etwas von einem atomaren GAU. Man konnte nichts sehen, nichts hören, nichts riechen. Man ahnte nur, dass die Folgen eines Zusammenbruchs unabsehbar wären. Wäre es der Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation, ähnlich wie ein verstrahlter Planet?

Die Aussicht auf fünf, gar sechs Millionen Arbeitslose ist schlimm. Immerhin bewegt sie sich aber in den Kategorien des Gewohnten oder zumindest Fassbaren. Bei der am stärksten betroffenen Automobilbranche kommt hinzu, dass viele den Absturz als selbstverschuldet ansehen. Falsche Prioritäten, falsche Modellpolitik. In Umfragen spricht sich eine Mehrheit der Deutschen gegen ein Rettungspaket für die Autobauer aus.

Ein großer Teil der Medien sieht das anders. Ende November, vor dem CDU-Parteitag, verdichtet sich der Chor zu schrillen Attacken gegen die Kanzlerin, die gegen die Krise nichts unternehme. Der böse Vergleich zu Gerhard Schröders Politik der ruhigen Hand kommt auf. Merkel verteidigt ihre Politik des Abwartens nicht offensiv. Sie spielt auf Zeit, beruft Mitte Dezember einen Krisengipfel ins Kanzleramt ein, verspricht ein neues Konjunkturprogramm für Januar.

Ein erfolgloser Bildungsgipfel, den die Kanzlerin Ende Oktober veranstaltet hatte, ist längst vergessen. Statt um sinnvolle Schulreformen, zusätzliche Lehrer oder neue Unterrichtstypen geht es jetzt nur noch um die Sanierung der Gebäude. Um undichte Toiletten und blätternden Putz. Das ist Realwirtschaft, die Bildung selbst erscheint in der Krise als virtuell.

Manche stellen die bange Frage: Wird Merkel zur Wiedergängerin Heinrich Brünings, des Reichskanzlers, der Deutschland Anfang der Dreißiger Jahre immer weiter in die Krise sparte, der den Niedergang durch Abschottung vom Ausland noch verstärkte? Heinrich August Winkler, der beste Kenner der Weimarer Republik unter Deutschlands Historikern, widerspricht kurz vor Weihnachten in einem Interview. Die zwischenstaatliche Verständigung funktioniere heute besser, das Fundament an sozialer Sicherheit sei solider, die totalitären Alternativen zur Demokratie hätten sich längst diskreditiert.

Zum Jahresende meldet der Handel, das Weihnachtsgeschäft sei prächtig verlaufen. Wie in den Vorjahren, als die Deutschen auch schon nicht an das immerwährende Wachstum glaubten. Kurz vor Silvester meldet Allensbach, nur eine Minderheit der Deutschen sehe den eigenen Arbeitsplatz von der Krise schon gefährdet. Insgesamt seien aber nur noch 34 Prozent der Deutschen zum Jahreswechsel hoffnungsvoll. So wenige wie beim Koreakrieg 1950, der Ölkrise 1973, den Terroranschlägen 2001 - oder am Ende der Amtszeit von Helmut Schmidt im Jahr 1982, des Bundeskanzlers, der jetzt so sehr gefeiert wird. Besonders pessimistisch klingt das nicht.

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