Migrationsforscher über Integration: "Knast ist teurer als Schule"

Vorsorge durch Bildung ist günstiger als Nachsorge durch Resozialisierung. Die Migrationsforscher Schwalgin und Ohliger fordern, dass Schulen Zuwandererkinder endlich besser integrieren.

Schulen sollten Zuwandererkinder besser integrieren. Bild: dpa

taz: Frau Schwalgin, Herr Ohliger, in vielen Städten sehen wir folgende Situation: Die Mittelschichtseltern fliehen vor Schulen mit vielen Migrantenkindern. Ist das nicht verständlich?

Susanne Schwalgin: Aus der individuellen Perspektive der Eltern schon. Sie wollen das Beste für ihr Kind und orientieren sich dabei an einem dominanten Diskurs: Schulen in Stadtvierteln, die einen hohen Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben, gelten prinzipiell als problematische Schulen. Ob das tatsächlich stimmt, ist eine andere Frage.

Ergebnisse und Erfahrungen zeigen das jedenfalls.

Schwalgin: Dennoch sollte man genauer hinschauen. Viele dieser so genannten Problemschulen haben - oft aus eigener Kraft - innovative Wege gefunden.

Rainer Ohliger: Bildungstourismus zwischen Stadtbezirken gibt es noch in einem anderen Fall: Die Privatschulen boomen. Damit erfolgt zunehmend die Privatisierung einer ehemals staatlichen Aufgabe.

Verstärkt das die die Trennung der Schichten?

Schwalgin: Ja, das kann passieren. Wir können zurzeit eine globale Entwicklung beobachten. Der ehemals staatliche Bildungsbereich wird zunehmend vermarktlicht. Das geschieht nicht nur durch Privatisierung, sondern auch durch die Einführung neuer Steuerungsmodelle in der Schule.

Ist das ein Problem?

Schwalgin: Jedenfalls wird es sehr kontrovers diskutiert. Viele sagen, es gehe zu Lasten jener, die immer schon benachteiligt waren. Andererseits eröffnet es Potenzial für eine eigenständige Schulentwicklung jenseits des staatlichen Gängelbandes.

Zum Beispiel?

Schwalgin: Etwa ein Schulprogramm auszuarbeiten. Das bedeutet, dass sich Lehrer, Schüler und Eltern Gedanken darüber machen, was eigentlich der Schwerpunkt ihrer eigenen schulischen Arbeit sein soll.

Was steht in so einem Programm?

Schwalgin: Im Mittelpunkt sollte stehen, wie die Schulen ihren Unterricht gestalten und wie das mit der Schulkultur verzahnt wird. Das Interessante an der neuen Steuerung von Schulen ist, dass sich die Rektoren ihre Lehrer selbst aussuchen können. Darin steckt ein ungeheures Potenzial - weil sie sich für einen Schwerpunkt Lehrer holen können, die in der Lage sind, mit solchen Konzepten zu arbeiten. Da sollte der Staat nachlegen und den Schulen mehr Autonomie für das Personal geben.

Ohliger: Eine Entstaatlichung des Bildungssystems ist undenkbar. Aber es muss mehr Wettbewerb um Ideen und gute Praxis geben - und die Chance zur kreativen Erprobung neuer Wege.

Was ist zum Beispiel eine erfolgreiche Schule?

Schwalgin: Eine Schule, die "jedes Talent erkennt und fördert".

So steht es vollmundig im Berliner Integrationskonzept.

Schwalgin: Ja, dafür gibt es aber kein einfaches Rezept. Ich denke, es hängt sehr stark von der Schulleitung und von der Art und Weise ab, wie sehr diese das Kollegium motivieren kann. Oder: wenn die Schulleitung keine Vision hat, wie reformwillig das Kollegium ist. Um Reformen umzusetzen, muss die Bildungsverwaltung engagierte Schulen beraten.

Ohliger: Auf der politischen Ebene wird momentan oft das hohe Lied der public private partnership gesungen, also die Kooperation des Staates zum Beispiel mit Stiftungen und der Wirtschaft. Das bedeutet unter Umständen auch das Abladen von staatlicher Verantwortung bei privaten, nicht demokratisch legitimierten Akteuren.

Schwalgin: Was momentan passiert, ist, dass Schulen Hilfsangebote regelrecht aufgedrängt werden. Es gibt zahlreiche Stiftungen in Deutschland, die sich im schulischen Bereich engagieren.

Wie soll man damit umgehen?

Schwalgin: In Phasen großer sozialer und politischer Veränderungen und allgemeiner Verunsicherung möchte man sich gerne an klaren Konzepten festhalten. Versäumnisse von 50 Jahren fehlender Integrationspolitik kann man aber nicht von einem Tag auf den anderen ausräumen. Das ist ein längerer Prozess. Die Initiativen sind alle sehr löblich, aber das alles kann nicht zum Erfolg führen, wenn es nicht den klaren politischen Willen gibt, Strukturen zu ändern.

Was heißt das?

Schwalgin: Es müssen mehr Mittel für Integration bereit gestellt werden. Und wir brauchen auch übergreifende verbindliche Konzepte für die Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Es wird in Deutschland ja kaum diskutiert, was die Kosten der Nichtintegration sind. Oder um es platt auszudrücken: Ein Jahr Knast ist ja deutlich teurer als ein Jahr Schule.

Was wären konstruktive Ansätze und Lösungen?

Schwalgin: Konstruktiv wäre - und das wird ja auch gemacht - ein verstärkter Dialog zwischen den Akteuren und eine Vernetzung der Schulen. Solch eine Runde-Tisch-Politik von Eltern. Lehrern, Jugendhilfe, kommunalen Wohlfahrts- und Migrantenorganisationen kann auf der Ebene der Schulkultur einiges leisten. Sie kann beispielsweise dafür sorgen, dass die Lebenswelten und sozialen Probleme der Schüler stärker im Schulalltag und im Unterricht Berücksichtigung finden. Allerdings sind solche Projekte finanziell nicht langfristig genug gesichert, was ein Problem ist.

Zurzeit erfolgt die Schuldzuweisung auch ganz schlicht an die Lehrer. Sie könnten einfach zu wenig. Stimmt das?

Ohliger: Schuldzuweisungen sind eine lang eingeübte Routine zwischen den Akteuren. Lehrer und Lehrerinnen sehen das Versäumnis auf Seiten der Eltern und auf Seiten der kommunalen Schulpolitik. Vertretungen der Eltern beschuldigen die Politik und die Lehrer, die sich nicht auf die neuen Herausforderungen einstellen wollen. Hingegen appelliert die Schulpolitik an die gesellschaftliche Verantwortung von Schulen und Lehrern sowie an die Eigenverantwortung der Eltern.

Wie kommt man heraus aus diesem Teufelskreis?

Ohliger: Diese eingeübten Schuldzuweisungen führen zu nichts. Wir haben da wohl eher ein strukturelles Problem, das auch mit der Altersstruktur der Lehrerschaft und deren Ausbildungsstand zu tun hat. Momentan haben die Schulen einen Übergang von vergleichsweise alten Lehrerkollegien zu jungen Lehrern. Die Mehrzahl der Lehrer wurde noch in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgebildet und eingestellt. Diese sind nur selten mit pädagogischen Konzepten von Interkulturalität und Diversität vertraut. Ein weiteres Problem ist, dass es nur sehr wenige Lehrer mit Migrationshintergrund gibt, die als Vorbilder und Lotsen dienen können. Das Lehramt gilt - anders als Jura oder Betriebswirtschaft - nicht gerade als sexy.

Wie sieht es mit der interkulturellen Kompetenz bei der Lehrerausbildung aus?

Schwalgin: Es ist ein Skandal, dass die interkulturelle Pädagogik immer noch ein Sonderbereich der Lehrerausbildung und kein Querschnittsbereich ist. Das Wissen und die Fähigkeiten, die damit verbunden sind, braucht heute jeder Pädagoge - übrigens auch in Schulen, die keinen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu verzeichnen haben. Denn es geht um die erfolgreiche Ausgestaltung der Schule in der Einwanderungsgesellschaft.

INTERVIEW EDITH KRESTA

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