100 Jahre Prozess Hitler-Putsch: Verschworen gegen die Demokratie

Am 26. Februar 1924 begann in München der Prozess gegen Hitler. Die Justiz half kräftig mit, ihn nach seinem Putschversuch als „Führer“ zu etablieren.

Ein Gruppenbild, Ludendorff, Hitler und andere Angeklagte sind zu sehen

Angeklagte Putschisten vor dem Gebäude, in dem der Prozess gegen sie in München 1924 stattfand. Links neben Hitler Erich Ludendorff Foto: Classic Vision/imago

„Unnütze Esser und sicherheitsgefährliche Personen“ seien „in Sammellager“ zu überführen. So lautete einer der zentralen Punkte der „Notverfassung“ der rechtsradikalen Putschisten um Adolf Hitler, die in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 von München aus mit Gewalt die Macht in Bayern an sich zu reißen versuchten, um dann bei einem Marsch nach Berlin eine Diktatur im gesamten Reich zu errichten.

Die Umstürzler hatten eine rechte Versammlung aus Regierungskreisen im Münchner Bürgerbräukeller gestürmt. Dort brüllte Hitler, nachdem er auf einen Tisch gestiegen war, die nationale Revolution sei ausgebrochen. Dann fuchtelte er mit einem Browning-Revolver herum und schoss in die Decke. „Wenn Deutschland ein deutscher Mussolini gegeben wäre, würde das Volk auf die Knie fallen und ihn mehr verehren, als Mussolini je verehrt wurde“, hatte er wenige Tage zuvor in einem Interview mit der britischen Zeitung Daily Mail orakelt. Damals war Hitler jenseits von München erst sporadisch in Erscheinung getreten.

Den Putschisten ging es um die Abschaffung aller in der ihnen verhassten Weimarer Verfassung von 1919 verankerten Rechte. Parlament und Regierung sollten aufgelöst werden. Zentral waren zudem antisemitische Bestrebungen: Jüdische Beamte sollten entlassen, ihr Vermögen eingezogen werden. Schon im Bürgerbräukeller wurden Juden als Geiseln genommen und in einem Raum im oberen Stockwerk misshandelt. Der Putsch scheiterte am 9. November 1923, nachdem sich Hitler und seinen Schergen an der Feldherrnhalle die Polizei in den Weg gestellt hatte.

Vor hundert Jahren, am 26. Februar 1924, begann in München der Gerichtsprozess gegen Hitler und neun Mitverschwörer dieses Umsturzes, aber die „Notverfassung“ war nicht mal Gegenstand der Anklage. Sie spielte weder bei der Gerichtsverhandlung eine Rolle noch bei der Verkündung des Strafmaßes. Und das, obwohl eine Abschrift der „Notverfassung“ im Sakko von Theodor von der Pfordten gefunden worden und der Staatsanwaltschaft als Beweisstück bekannt war.

Von der Pfordten, der rechtsradikale Mitverschwörer, Rat am Oberlandesgericht, stand beim Marsch auf die Feldherrnhalle direkt neben Hitler und kam bei der Schießerei zwischen Nazis und Polizei zu Tode.

Kusshände für die Damen

Das Medieninteresse war groß. Allein 300 Pressevertreter hatten sich angemeldet, aus Sicherheitsgründen wurde die Verhandlung vom Münchner Justizpalast an die Infanterieschule in der Blutenburgstraße verlegt. Einer der Prozessbeobachter war der österreichische Schriftsteller Joseph Roth.

In der Ausgabe des Vorwärts vom 2. März 1924 notierte er etwa, dass die Angeklagten den Damen im Gerichtssaal Kusshände zuwarfen: „Es ist keine Gerichtssaalsitzung, sondern eine spiritistische Séance … Man müsste blind sein oder, was dasselbe ist, ein naives deutsches Publikum, um nicht zu erkennen, daß in München kein ‚politischer Prozess‘, sondern ein Fastnachtstraum stattfindet.“ Hitler bezeichnete sich vor Gericht als „Schriftsteller“, Roth gab ihm die Berufsbezeichnung „Tapezierer“.

Dieser Tapezierer redete allein am ersten Prozesstag dreieinhalb Stunden. Er vertrat die „Dolchstoßlegende“, eine Verschwörungstheorie, die glauben machen sollte, dass die Sozialdemokratie durch ihre Friedensverhandlungen mit der Entente und den USA 1918 das „unbesiegte“ deutsche Heer von hinten erdolcht hatte. Er behauptete, nicht der Erste Weltkrieg habe zur Inflation von 1923 geführt, sondern „der Unsinn der Novemberrevolution“.

Das kosmopolitische Wien hatte ihn zum Hass auf Juden gebracht. Die Juden machte Hitler für alles verantwortlich und den Marxismus, den er als „Rassegift und Massentuberkulose“ bezeichnete. Das Gericht unter dem Vorsitzenden Georg Neithardt unterbrach diese Agitationsreden nie. Neithardt war auf dem rechten Auge blind. Schon den zum Tode verurteilten Attentäter von Ministerpräsident Kurt Eisner, Graf Arco, begnadigte er nach wenigen Wochen Haft. Auch gegen Hitler hatte er bereits 1922 Milde walten lassen.

Antisemitische Ausfälle

In jenem Jahr hatte Hitler mit anderen Nazis eine Versammlung des Bayernbundes überfallen und dessen Gründer Otto Ballerstedt schwer verletzt. Drei Monate Haft wurden nach vier Wochen zur Bewährung ausgesetzt. Diese Bewährung wurde beim Prozess gegen den Putsch im Falle Hitler nicht einmal angeführt.

Während des Prozesses rügte Neithardt auch keinerlei antisemitische Ausfälle. „Novemberverbrecher“ als Bezeichnung für die amtierende Regierung in Berlin wurde nur sporadisch beanstandet. Die Verteidigung der Putschisten, durchsetzt mit Gesinnungsgenossen der Angeklagten, verfolgte die Taktik, mit unwichtigen Zeugen und langen Zeugenaussagen die Richter zu ermüden. Auch so war die Unabhängigkeit der Justiz nicht gegeben. Es fand keine Beweisaufnahme statt.

Obwohl der Staatsgerichtshof in Leipzig formal als Austragungsort für den Prozess zuständig gewesen wäre, da es sich nach dem Republikschutzgesetz beim „Hitlerputsch“ um ein Hochverratsverfahren handelte, sorgte der deutschnational gesinnte bayerische Justizminister Franz Gürtner zunächst dafür, dass die Verhandlung in München geführt wurde und am dortigen Volksgericht stattfand.

Bayern hatte sich nach Niederschlagung der Räterepublik 1919 binnen weniger Monate zur „Ordnungszelle“ gewandelt. Linke wurden gnadenlos verfolgt und hart bestraft, Rechte wurden mit Samthandschuhen behandelt. Unter dem Schutz von Polizei und Justiz durften diese sogar politische Morde begehen und wurden hinterher von Bayern aus weiter ins Ausland geschleust. Das in Bayern regierende sogenannte Triumvirat, Gustav Ritter von Kahr als bayerischer Generalstaatskommissar, Otto von Lossow als Reichswehrgeneral und Polizeichef Oberst Hans Ritter von Seißer, war demokratiefeindlich gesinnt. Von Lossow bezeichnete die Weimarer Republik als „Eunuchen- und Kastratenherrschaft“.

Mangel an Ehrlichkeit

Justizminister Gürtner war am 8. November im Bürgerbräukeller anwesend und wurde von den Nazis als Geisel genommen. Ihm ging es vornehmlich darum, Kahr, Lossow und Seißer beim Hitler-Prozess aus der Schusslinie zu nehmen. So sollten die drei gegen die zehn Putschisten auf keinen Fall aussagen. Hitler wurmte wiederum, dass sich die führenden Rechten seinem Putsch nicht angeschlossen hatten. Von Kahr ließ er 1934 ermorden. Im Gerichtssaal bezichtigte er die drei des Hochverrats. Sie müssten eigentlich auf der Anklagebank sitzen, erklärte er, während er „das Recht der deutschen Geschichte“ auf seiner Seite habe.

Von Kahr hatte am 8. November 1923 zögerlich Maßnahmen gegen den Putsch eingeleitet. Bei seiner Zeugenvernehmung berief er sich entweder auf sein „Amtsgeheimnis“ oder gab an, sich nicht an Einzelheiten in der Putschnacht erinnern zu können. Der französische Botschafter schrieb in einem Memorandum nach Paris, der bayerische Politiker habe vor Gericht „den Eindruck eines absoluten Mangels an Ehrlichkeit und an politischem Geist vermittelt“.

Im Verlauf der 25 Verhandlungstage wurden die Behauptungen der Nazis immer dreister, die Atmosphäre zunehmend grotesk. Ein Verteidiger erklärte am vierten Prozesstag, der bewaffnete Einsatz der Münchner Polizei gegen die Putschisten sei „Mord“ gewesen. Richter Neithardt widersprach dieser Darstellung nicht. Er hatte bereits beschlossen, die Vorgänge an der Feldherrnhalle, bei denen vier Polizisten erschossen wurden, aus dem Prozess auszuklammern.

Fähigkeiten als Propagandaredner

In seinem Plädoyer am 21. März 1924 übernahm der Staatsanwalt die Nazi-Weltanschauung. Er stellte es als Hitlers Verdienst dar, durch den Aufstand „in einem unterdrückten und entwaffneten Volke den Glauben an die deutsche Sache wieder zu erwecken“. Auch die Urteilsverkündung am 1. April 1924 geriet zum Skandal. Der Mitangeklagte General Erich Ludendorff war, wie andere Verschwörer, in Militäruniform vor Gericht erschienen.

Hitler hatte sich das Eiserne Kreuz Erster Klasse angeheftet. Er wurde, wie drei andere Mitangeklagte, zur Mindeststrafe fünf Jahre Festungshaft verurteilt. Trotz seiner Vorstrafen wurde ihm wieder Bewährung in Aussicht gestellt. Fünf Mitangeklagte wurden zu einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt. Ludendorff erhielt einen Freispruch. Das Gericht lehnte die zwingend vorgesehene Ausweisung Hitlers nach Österreich ab. Rechtsbeugung ist gar kein Ausdruck für dieses Justizversagen.

Zu­schaue­r:In­nen feierten den Ausgang des Verfahrens im Gerichtssaal. Der Historiker Wolfgang Niess schreibt, Hitler bot der Prozess die Möglichkeit, „seine Fähigkeiten als Propagandaredner optimal zu nutzen“. Er verherrlichte seine Rolle beim Putsch. Von der Öffentlichkeit wurde er seither als „Führer“ wahrgenommen. Dennoch sieht Niess die Weimarer Republik nach dem Prozess gefestigter als je zuvor. Die Demokratie habe den Putsch abwenden können und damals von Berlin aus begonnen, „ihr politisches, soziales und kulturelles Potenzial zu entfalten“.

Der Schriftsteller Oskar Maria Graf erinnerte sich an Hitler wahlweise als „Wotan­deutschen“ oder „Spitzel“, der in den Künstler­ateliers und Kaffeehäusern im Schwabing der 1920er Jahre herumschnüffelte, die Leute ungefragt mit seiner Ideologie belästigte und dabei geiferte wie „ein totaler Hysteriker, der seinen Tenor nicht halten kann“. Man hätte Hitler damals leicht aufhalten können.

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