53.-56. Tag Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Der Zeuge und das Video

Kuriose Umstände der Vernehmung eines Ex-FDLR-Kämpfers bringen die Anklage in Bedrängnis. Erstmals wird das Video einer Vernehmung öffentlich im Gerichtssaal gezeigt.

Der ehemalige FDLR-Präsident Ignace Murwanashyaka. Bild: reuters

STUTTGART taz | Welche Erfahrungen machen ehemalige FDLR-Kämpfer mit dem deutschen Strafverfahren gegen ihren Präsidenten Ignace Murwanashyaka und dessen Stellvertreter Straton Musoni vor dem OLG Stuttgart, bevor sie selbst zur Aussage nach Stuttgart kommen? Die Kontroverse darüber überschattete die Vernehmung des Zeugen S an den vier Verhandlungstagen 23., 25. und 30. Januar sowie 1. Februar.

S ist wieder einer der vielen FDLR-Kämpfer, die als Kinder zu Flüchtlingen wurden und praktisch als Kämpfer aufwuchsen. Er wirkt sehr jung und wurde offenkundig bereits als Kind Soldat, was aber nicht weiter erörtert wird. Nach eigenen Angaben wurde er 1984 geboren. 1994, nach dem Völkermord an Ruandas Tutsi, floh der ruandische Hutu aus Ruanda wie viele andere in den Kongo; 1996, erzählt er, ging er nach Zerstörung der Hutu-Flüchtlingslager von Bukavu nach Angola, wo er ein Jahr blieb.

Danach kehrte S in den Kongo zurück und diente in Mbuji-Mayi (Hauptstadt der Provinz Kasai-Oriental) als ruandischer Hutu-Soldat. Das war während des 2. Kongokrieges (1998-2003), als quer durch Kasai-Oriental die Front verlief, die den Kongo in zwei teilte: im Westen das Regierungsgebiet von Präsident Laurent-Désiré Kabila, unterstützt von Angola und Simbabwe sowie den exilierten ruandischen Hutu-Kämpfern; im Osten die Rebellenbewegung RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie), unterstützt von Ruanda und Uganda.

S nahm eigenen Angaben zufolge an "großen Kämpfen" bei der Frontstadt Kabinda in Kasai teil, wenige Kilometer von der Front gegen die RCD und Ruanda entfernt. "Man sagte uns, dass wir gegen die ruandische Armee kämpfen", erinnert er sich. "Sie wollten den Flughafen erobern. Wir haben zusammen mit Angolanern und Nigerianern gekämpft. Wir waren damals noch viele."

"Wir haben nicht gekämpft, wir haben uns im Wald hingesetzt"

Später, nach Gründung der FDLR und der Stationierung der ruandischen Hutu-Kämpfer im Ostkongo, diente S in der Reservebrigade, die das FDLR-Militärhauptquartier in Kibua (Nord-Kivu) schützt. Er nahm aber nach eigenen Angaben nie an Kämpfen teil. "Wir haben nicht gekämpft, sondern sind in den Wald gegangen und haben uns dort hingesetzt", beschreibt er die Tätigkeit seiner Truppe.

S gehörte auch zu einer Truppe, die FDLR-Präsident Ignace Murwanashyaka bei einem von zwei Besuchen bei der FDLR im Kongo begleitete und ihn von Hombo an der Grenze zwischen den Provinzen Süd- und Nord-Kivu weitergeleitete und zum FDLR-Militärchef Sylvestre Mudacumura brachte. "Man hat uns angelogen, dass Murwanashyaka zehn Dollar für uns hat", erinnert er sich; "das Geld haben wir nie bekommen".

S beschreibt auch den FDLR-Angriff auf das ostkongolesische Busurungi – das schlimmste einzelne der FDLR vor dem OLG Stuttgart zur Last gelegte Verbrechent, bei dem in der Nacht des 9. Mai 2009 mehrere Dutzend Menschen getötet und das Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde. "Ich war nicht dabei, ich war krank", schränkt er ein, "sie haben mich hinten zurückgelassen". Die FDLR-Soldaten hätten ihm dann hinterher erzählt, was passiert war. Er bestätigt, dass zunächst die kongolesische Armee (FARDC) die FDLR im nahen Shario angriff und dann die FDLR nach Busurungi zog, "um die FARDC anzugreifen".

Seine Kameraden "haben mir gesagt, sie haben auf die FARDC geschossen, die FARDC ist geflohen, dabei sind Zivilisten gestorben". Und "die FDLR-Soldaten, mit denen ich lebte, sagten mir, dass sie alle Häuser dort in Brand gesetzt haben... als sie die kongolesischen Soldaten nicht fanden". Auf die Frage, ob die Häuser auf Anweisung angezündet wurden, antwortet S widersprüchlich: "Diese Anweisung gab es nicht. Immer wenn der Feind wegrennt, muss man das Haus anzünden."

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der der FDLR zur Last gelegte Angriff auf das Dorf Kipopo (Nord-Kivu) am 13. Februar 2009, bei dem Zivilisten ums Leben kamen. Auf immer neue Fragen, ob der Zeuge dabei war und ob er dazu was wüsste, gibt er an unterschiedlichen Tagen unterschiedliche Antworten. Schließlich bestätigt er, dass eine Kompanie der FDLR-Reservebrigade – aber nicht seine eigene – den Ort tatsächlich angriff.

"Als sie dorthin gingen, dachten sie, dass die FARDC da sein, aber sie war nicht da", führt S aus. "Dann haben sie die Siedlung beschossen und die Häuser niedergebrannt". Warum? "Ich kann den Grund nicht wissen. Die, die das gemacht haben, kennen den Grund". Waren noch Menschen in den Häusern, die abgebrannt wurden? "Das weiß ich nicht, es war nachts. Die Leute sind direkt danach zurückgekommen. Es ist keiner dorthin zurückgegangen, um zu sehen, wer dort ist.“"Seine Kameraden seien am Morgen nach dem nächtlichen Angriff zurückgekommen und hätten das erzählt.

Nach dieser Aussage beschließt der Zeuge, keine Aussagen zu FDLR-Operationen mehr zu machen. Er bestätigt aber nach anfänglicher Verneinung, dass er durchaus ein Maschinengewehr bedient hat.

Im Dezember 2009 verließ S die FDLR und ging nach Ruanda zurück. „Ich wollte nach Hause gehen. Ist der Kongo meine Heimat?“ Auf dem Weg wurde er von Kämpfern der kongolesischen Hutu-Miliz Pareco (Kongolesische Widerstandspatrioten) festgenommen, die zu diesem Zeitpunkt bereits in Kongos Armee FARDC eingegliedert waren. Aber er redete sich heraus und konnte von der UN-Mission im Kongo nach Ruanda gebracht werden.

Befragung im Hotelzimmer

Im ruandischen Demobilisierungslager Mutobo wurde S schließlich zum Zeuge für die deutschen Ermittler. Er wurde, berichtet er, in einem Auto mit der Aufschrift „Staatsanwaltschaft Bukavu“ aus Mutobo nach Gisenyi gebracht, wo deutsche Beamte Zeugenvernehmungen in einem Hotel durchführten. Es wird ein Video der Vernehmung auszugsweise öffentlich gezeigt: Man sieht ein ziemlich einfach eingerichtetes Hotelzimmer, in der Mitte steht ein Tisch., dahinter eine Stehlampe.

Am Tisch sieht man den Zeugen und den Dolmetscher, ansonsten ist nicht zu erkennen, wer sich noch im Zimmer aufhält. Man versteht die Ausführungen des Zeugen und des Dolmetschers fast gar nicht, Hintergrundgeräusche wie Vogelgezwitscher und Baulärm sind teilweise lauter.

"Sie haben gesagt, sie sind Polizisten aus Deutschland", berichtet S. "Man hat uns befragt zu unserem Wissen über den Kongo."

Mehr als bei jedem anderen Zeugen bisher interessiert sich Murwanashyakas und Musonis Verteidigung für die Umstände dieser Befragung in Gisenyi. Am ersten Tag der Vernehmung von S in Stuttgart wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen, damit die Videoaufzeichnung der Vernehmung in Gisenyi komplett gezeigt werden kann.

Die Verteidigung hatte zuvor beantragt, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, bis alle Prozessbeteiligten in alle Videoaufzeichnungen von Zeugenvernehmungen – es sind insgesamt 234 DVDs – Einsicht genommen hätten. Dies sei nötig, um zu überprüfen, ob die vorliegenden Vernehmungsprotokolle mit den tatsächlichen Vernehmungen übereinstimmten.

Der Senat lehnt dies ab. Als Zeuge S zum ersten Mal in den Gerichtssaal kommt, wird er gefagt, ob er einverstanden ist, Kopien seiner Aufnahmen der Vernehmung der Verteidigung zu überlassen. Er lehnt nach Beratung mit seinem Zeugenbeistand ab. Daraufhin wird die Aufnahme im Gerichtssaal vorgeführt, ohne Öffentlichkeit.

Es muss hoch hergegangen sein dabei. Am nächsten Verhandlungstag beschwert sich die Verteidigung, sie habe in fünf Stunden nur eine der vier Stunden Vernehmung durcharbeiten können. Der Vorsitzende Richter Hettich lehnt schließlich weitergehende Anträge der Verteidigung ab: Seit Dezember 2010 sei der Verteidigung bekannt, dass es diese Videoaufzeichnungen gibt; seit 20. Oktober 2011 habe die Verteidigung die Erlaubnis, sie einzusehen; jetzt erst sei der Antrag gestellt worden, sie anzugucken. Die Bänder seien nicht Teil der Akte und daher nicht obligatorisch der Verteidigung zu überlassen; nur die Protokolle seien Teil der Akte. Schließlich wird auch verfügt, dass die weitere Inaugenscheinnahme der Zeugenvernehmung abgelehnt wird; der Zeuge sei hier und er sei das unmittelbare Beweismittel.

Die eine Stunde, die am ersten der vier Verhandlungstage von der Verteidigung gesehen wurde, bietet der Verteidigung offensichtlich genug Stoff, um scharfe Kritik an der Art der Vernehmung des Zeugen S in Gisenyi zu üben. Ob er wusste, dass er ein Recht auf Aussageverweigerung hatte, fragt die Verteidigung. S ist verblüfft. "Wie konnte ich denn nichts sagen, obwohl man uns gesagt hatte, dass wir nach Gisenyi gehen, um auszusagen?"

Die Verteidigung – die für ihre Kenntnisse von Kinyarwanda ausschließlich auf die Angeklagten angewiesen ist - ist aufgrund ihrer vorherigen Einsicht davon überzeugt, dass die Vernehmung unbrauchbar ist, da rechtswidrig geführt. Die Übersetzungen während der Vernehmung würden nicht den Zeugenaussagen entsprechen, und dem Zeugen seien mehrfach Dinge wie "Du lügst" und "Wir glauben dir nicht" gesagt wurden. Im Protokoll seien Fragen des BKA-Beamten als Antworten wiedergegeben.

"Ich bin unschuldig"

S darf schließlich am dritten der vier Befragungstage selbst einen Teil die Videoaufnahme seiner Vernehmung in Ruanda sehen. Es wird das Video zu bestimmten Fragestellungen gespieklt; der Dolmetscher des OLG Stuttgart übersetzt für den Stuttgarter Gerichtssaal, was S in Gisenyi gesagt hat und wie der anwesende Dolmetscher ihm die Fragen des deutschen Ermittlers übersetzt hat.

Der deutsche vernehmende Beamte fragt: "Haben Sie Angst vor der FDLR?"

"Ich Angst?" erwidert S und lacht. "Wie kann ich keine Angst vor FDLR haben? Werde ich zurückgehen?"

"Beantworten Sie darum die Frage nicht richtig, aus Angst?" fragt der Ermittler. Der Dolmetscher in Gisenyi gibt das so wieder: "Haben Sie Angst, richtig zu antworten?" Der Ermittler fährt fort. "Sie haben die Pflicht zur Wahrheit." Der Dolmetscher sagt S: "Sie müssen unbedingt die Wahrheit sagen:"

"Ich sage die Wahrheit", erwidert S. "Was ich nicht weiß, sage ich nicht."

Der Ermittler wird ungeduldig. "Er soll jetzt einfach mal zuhören", erklärt er dem Dolmetscher und sagt S: "Sie müssen nicht sagen, was Sie getan haben. Wir wollen nicht wissen, ob Sie geraubt und gemordet haben." Der Dolmetscher macht daraus: "Sie fragen, ob Du geraubt und gemordet hast".

"Ich bin unschuldig", antwortet S.

"Uns interessiert, ob die FDLR geraubt oder gemordet hat", erwidert der Ermittler. S hebt zur Antwort ""Ich weiß davon nichts" an. Der deutsche Ermittler wird laut: "Er soll zuhören! Wenn er glaubt, dass wir nicht merken, dass er lügt, dann täuscht er sich!"

"Er merkt, wenn du lügst", erklärt der Dolmetscher S.

"Sie sind jetzt in Ruanda", sagt der Ermittler. "Sie haben keinen Grund mehr, die FDLR zu decken." Der Dolmetscher macht daraus: "Du wirst keine Konsequenzen haben. Warum sagst du nicht die Wahrheit?"

"Ich habe Ihnen nichts verheimlicht", sagt S. "Was ich weiß, habe ich Ihnen gesagt."

"Ich sagte, dass ich nicht lesen kann"

An einer anderen Stelle kommt S beim Ansehen der Aufnahme in Stuttgart zum Schluss: "Der Dolmetscher hat gelogen." So habe dieser gesagt, S sei in Angola militärisch ausgebildet worden, was aber unwahr sei. "Ich habe dem Dolmetscher gesagt, dass manche zur angolanischen Armee gingen und blieben, ich jedoch nicht... Er hat gesagt, ich war in der angolanischen Armee, obwohl ich von anderen sprach."

Dann fragt die Verteidigung, warum S sein Vernehmungsprotokoll unterzeichnet habe, wenn es fehlerhaft sei.

"Als die Befragung fertig war, sollte ich die Papiere unterzeichnen. Ich sagte, dass ich nicht lesen kann."

"Wie ist man mit diesem Problem umgegangen?"

"Sie zeigten mir Blätter und wo ich unterschreiben soll."

"Also nach Aufforderung?"

"Ja."

"Denken Sie nochmal nach. Hat der Dolmetscher die Blätter für Sie übersetzt vor der Unterzeichnung?"

"Wenn er für mich übersetzt hätte und ich Fehler bemerkt hätte, hätte ich nicht unterschrieben."

"Es gab also keine Übersetzung des Protokolls?"

"Er hat mir nichts vorgelesen."

"Hat der Dolmetscher Ihnen auf Kinyarwanda erklärt, was auf den Blättern steht?"

"Das hat nicht stattgefunden."

Die Verteidigung triumphiert: "Der letzte Satz des Protokolls lautet: Das Protokoll wurde mir übersetzt, es entspricht dem was ich sagte. Nach dem, was Sie heute sagten, handelt es sich entweder um Urkundenfälschung, da das Protokoll unwahr sei – oder Sie lügen heute."

"Ich lüge nicht", erwidert der Zeuge.

Jetzt hat die Verteidigung, was sie will: Die Aussage von S in Stuttgart insgesamt sei nicht zu verwerten, sagt sie, da die Vernehmung in Ruanda offensichtlich nicht korrekt ablief.

"Es ist lange her, ich erinnere mich nicht"

Die Bundesanwaltschaft bestreitet das. Am vierten der vier Tage fragt sie den Zeugen: "Sind Sie sicher, dass Ihnen das Protokoll nicht übersetzt erneut vorgelesen wurde?"

"Ich habe das bestritten", sagt S. "Es ist lange her, ich erinnere mich nicht."

Die letzten zwei Minuten der Videovernehmung aus Gisenyi werden vorgespielt. Der deutsche Beamte sagt zu S: "So, das Protokoll wird nun ausgedruckt und Ihnen dann nochmal auf Kinyarwanda vorgelesen." Der Dolmetscher übersetzt: "Ich werde dir das Protokoll vorlesen, wenn es ausgedruckt ist."

"Erinnern Sie sich daran?" fragt der Staatsanwalt in Stuttgart.

Die Verteidigung will diese Frage verhindern. Die Verhandlung muss unterbrochen werden, damit der Senat darüber beraten kann. Die Frage ist zulässig.

"Erinnern Sie sich an diese letzten zwei Minuten?" wiederholt der Staatsanwalt.

"Ich kann mich nicht gut erinnern", antwortet S. "Man hat mich lange befragt. Ich war etwas verwirrt."

Er ist nicht der einzige.

Wenn die Vernehmungen ehemaliger FDLR-Kämpfer in Gisenyi nicht korrekt ablief, ist es dann zulässig, darauf eine Anklage zu gründen? Das bestreitet die Verteidigung und will damit das Verfahren niederschlagen. Wenn die ehemaligen FDLR-Kämpfer in Stuttgart korrekt befragt werden, sind ihre Aussagen dann verwertbar? So sieht das die Anklage und will damit das Verfahren voranbringen.

Über all dem schwebt, wie schon öfter, ein erneuter Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen Senatsmitglieder, über den erst noch entschieden werden muss. Noch ist die Hauptverhandlung in Stuttgart immer noch nicht endgültig über das Stadium hinausgekommen, ihre eigenen Grundlagen zu klären.

Redaktion: Dominic Johnson

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