78. Jahrestag der Befreiung: Und jährlich grüßt das Murmeltier

Am 8. Mai gedenkt man des Kriegsendes und der Opfer des deutschen Faschismus. Beim Blick auf die Gegenwart fehlt es allerdings an Achtsamkeit.

Rosen liegen auf der Kette eines historischen Panzers am dem Sowjetischen Ehrenmal am Tiergarten

Blumen in Erinnerung ans Kriegsende am Sowjetischen Ehrenmal am Tiergarten Foto: Carsten Koall/picture alliance

Seit Jahrzehnten löst der 8. Mai wiederkehrend Beklommenheit in mir aus: Die Nation gedenkt des Kriegsendes und der Opfer des deutschen Faschismus, ohne dabei mit der gleichen Achtsamkeit auch auf die Gegenwart zu blicken. Warnungen gelten besonders dem Wahnsinn verstorbener Alt-Nazis, ihre Ideologie geistert aber auch heute noch dank Neonazis und anderer Rechtsextremer durchs Land.

Ist es ein dissoziativer Umgang oder bereits manifeste Störung?

Das von der taz enttarnte Hannibal-Netzwerk und die aufgeflogenen Umsturzpläne um Prinz Reuß sowie der Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkemann sind nur zwei Beispiele von zu vielen. Sind das Ermüdungserscheinungen als Folge ritualisierten Mahnens? Ist es ein dissoziativer Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart oder bereits eine manifeste Störung?

Es heißt, kaum ein Land stelle sich seiner Vergangenheit so beständig wie die Deutschen. Es gab den Frankfurter Auschwitzprozess, das „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ der Studentenbewegung, Brandts Kniefall, den Historikerstreit… Aber reicht das aus? Der bitterböse Witz ist ja, dass die meisten Aufklärungsversuche gegen die empörte Mehrheit der Deutschen unternommen wurden: Fritz Bauer war kein Liebling seiner Zeit, Rudi Dutschke kein Volksheld.

Sollte ein Maß gelungener Erinnerungskultur nicht eher sein, wie faschistoid, völkisch und rassistisch Teile unserer Gegenwart sind – ohne dabei die Shoah aus dem Blick zu verlieren? Wären wir damit einer ganzheitlicheren Erinnerungskultur nicht näher? Wie ließen sich „Nie wieder!“ und „Der Schoß ist fruchtbar noch …“ denn sonst noch ernst nehmen?

Die einst von Merkel versprochene vollständige Aufklärung der NSU-Morde ist bis heute ausgeblieben, mit NSU 2.0 und dem mutmaßlichen Neukölln-Komplex gibt es allem Anschein nach Spin-offs der ursprünglichen Idee. Im Osten setzt sich eine rechtsextreme Partei als stärkste Kraft fest, beklemmend bleiben die andauernden Schutzmaßnahmen für jüdische Einrichtungen, unvergessen Horst Seehofer, der ums Verrecken eine Studie über Rassismus ablehnte …

Es braucht keinen Hitler für faschistische Verbrechen

Sagt Ihnen der Name Paul Dickopf etwas? Der Kriminalpolizist aus dem Dritten Reich und Angehörige der SS war ab 1950 Regierungs- und Kriminalrat im Bundesinnenministerium. Er baute maßgeblich das BKA mit auf. 1965 wurde er dessen Präsident, wenig später außerdem Chef von Interpol. Es liegt auf der eben noch zum Hitlergruß gereckten Hand, dass er in diesen Funktionen etliche Kollegen vor Strafverfolgung schützen und ihre Identität verschleiern konnte, unter ihnen NS-Kriegsverbrecher. Dies ergab eine 2012 veröffentlichte Studie, die das Amt selbst beauftragte. Ja, auch Institutionen lassen über ihre Historie forschen. Das ist gut, aber reicht das auch aus? Wie gesagt, das Stichwort lautet: Dissoziation.

In der Zusammenfassung der Studie heißt es, die alten Nazis hätten „auf den radikalen Umbau des Amtes in den 1970er Jahren“ keinen Einfluss mehr besessen, „zugleich aber ging im BKA das Bewusstsein für die mit ihnen verbundene historische Belastung verloren“. Die physischen Kontinuitäten mag es also nicht mehr geben, jedoch stellt sich mir die Frage, wie es in Teilen solcher Behörden um die Geisteswelt bestellt ist.

Meine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat eine Standleitung in die Gegenwart. Natürlich liegt es vor allem an meiner Herkunft, als nicht-weißer Migrant passe ich nur als Fremdkörper ins völkische Weltbild Rechtsextremer. Es braucht nicht erst einen Hitler, eine NS-Diktatur oder Vernichtungslager für faschistisch motivierte Verbrechen. Es heißt ja auch nicht „Wehret dem Ende!“, sondern den Anfängen.

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Jahrgang 1976, Südhang Hindukusch. Berliner Junge. Schon als Kind im Widerstand gegen Exoten-Bonus und Kanaken-Malus. Heute als Autor und Producer zu unterschiedlichen Themenfeldern journalistisch tätig. Für TV, Print, Online und Bühne. Und fast immer politisch.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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