WINK MIT DEM ZEITPFAHL

 ■  Spekulationen über den 9. November

Wenn in Deutschland jemand einen Witz macht, sitzt bekanntlich die halbe Nation auf dem Sofa und nimmt übel. Kaum ist in Deutschland einmal irgendetwas Außerordentliches passiert, muß jemand gleich einen National-Feiertag daraus machen - und die halbe Nation nimmt übel. Über Vogels schlechten Witz, den 9. November zum Nationalfeiertag zu machen haben sich sofort diverse Bedenken erhoben und auf die Kollison mit der Pogromnacht 1938 und die Unvereinbarkeit von Bußtag und Freudenfest verwiesen. Wer noch genauer auf den Kalender blickt, dem kann eine sehr viel mysteriösere Koinzidenz nicht entgehen: der 9. November 1918 (Sturz des Kaisers, deutsche Revolution), der 9. November 1923 (Hitler-Putsch), der 9. November 1938 (Reichskristallnacht“) und der 9. November 1989: Durchbruch der Berliner Mauer. Vier mal entladen sich die politischen Prozesse in einem explosiven Ereignis, vier mal brechen latent gärende Tendenzen plötzlich an die Öffentlichkeit: das Ende des Kaisertums, der erste Aufmarsch des 3. Reichs, der eigentliche Beginn seines Weltkriegs - gegen die eigene Bevölkerung, und jetzt das Ende der Mauer. Vier mal hat sich das deutsche Volk am 9. November zu Wort gemeldet und ein entscheidendes Kapitel der Geschichte aufgeschlagen. Daß all dies Zufall sein soll, will mir nicht in den Kopf - doch welchen Umständen verdanken wir es, daß die Turbulenzen der Geschichte mit deutscher Pünktlichkeit ihre Quantensprünge in eine neue Ordnung ausgerechnet am 9. November vollziehen?

NEUnter NOVEMber - zweimal, deutsch und lateinisch, das Wort „neu“ - kein anderer der 365 Tage ist von seinem Namen her besser geeignet, ein Omen - ein schicksalhaftes Zeichen

-zu geben. Das Wort „neu“ wird etymologisch der „Neun“ zugeordnet, mit der bei der ursprünglichen Zählweise im Vierer-System ein „neuer“ Vierer-Block begann. Auch numerologisch geben die 9. November etwas her, die magische 5 jedenfalls tauchte bei meinen pseudo-kabbalistischen Berechnungen dauernd auf: Von 1918 bis 1923 - 5 Jahre, vom ersten Aufmarsch des 3. Reichs 1923 bis zum perversen Anfang seines Endes - 15 Jahre, diese 15 umgekehrt ergeben 51 - 51 Jahre, nachdem die Deutschen in der Pogromnacht 1938 einen Bevölkerungsteil brutal von sich abtrennten, geschieht am 9. November 1989 das exakt umgekehrte Ereignis: auf sanfte Weise werden sie mit einem anderen, scheinbar auf ewig abgetrennten Bevölkerungsteil, plötzlich wieder zusammengeführt.

Die Hölle des Hasses auf dem Kudamm 1938 reinkarniert sich also 1989, gleiche Stelle gleiche Welle, als Himmel der Versöhnung? - Schwachsinn, sage ich mir, es haben sich nicht Juden und Deutsche, sondern Mördersöhne und Täterinnen -Töchter versöhnt. Doch der Kabbalist in mir gibt sich noch nicht geschlagen: Daß es „ganz andere“ sind, die sich da versöhnen, zeigt nur, daß die Emanationen der Weltgeschichte nicht der Mechanik eines Hollywood-Schinkens folgen, sondern der fraktalen Dramaturgie einer Zeitwelle, die eben nicht das immer Gleiche, sondern permanent Transformiertes spiralisiert - und sich den 9. November als psychokinetischen Plot-Point ausgesucht hat.

Und das alles wegen zweimal „neu“ im 9. November und ein paar heiligen Fünfern - schon will ich mich von diesem datumsmagischen Hokus-Pokus verabschieden, da deutet ein weiteres eklatantes Zeichen, daß es so einfach nicht ist mit der Unvereinbarkeit der Vertreibung der Nachbarn 1938 und des willkommenen Großbesuchs 1989: Während dies alles geschah, befand sich der oberste Volksvertreter der Bundesrepublik nicht irgendwo, er war auf dem Weg nach Auschwitz! Wer hier immer noch an Zufall glaubt, sei daran erinnert, was passierte, als der Kanzlerdarsteller den Büßer -Platz und die Demuts-Rolle, die eine genialische Dramaturgie ihm zugedacht hatte, wichtigwedelnd verließ: er wurde hunderttausendfach ausgepfiffen, ist seitdem politisch tot. Die Ära Kohl ist mit dem 9. November beendet, und mit ihr als Enkel-Variante der Adenauer Zeit der Kalte Krieg der Systeme: die Blöcke weichen auf, was ein eiserner Propaganda -Vorhang 40 Jahre trennte, läuft durch das Brandenburger Tor wieder zusammen. Auschwitz wird bei dieser Vereinigung nicht nur nicht vergessen, sondern kann erst jetzt richtig erinnert werden, so umfassend, wie Walter Benjamin es verstanden hat: „Der Faschismus besteht aus zweierlei: dem eigentlichen Faschismus und dem Anti-Faschismus.“ Es mußte erst der antifaschistische Schutzwall brechen, damit eine radikale Bewältigung sich Bahn brechen kann...

Die Frage, ob man in Deutschland nun trauern oder feiern soll, hat die Weltgeschichte am 9. November ganz eindeutig beantwortet: wer fortan nicht trauert und feiert, hat keines von beiden verstanden. Der Abgang des Kaisers und das Verschwinden Helmut Kohls, der Aufstieg des Führers und der Abschied vom Führerprinzip (Einheitspartei), das ekstatische Morden und die begeisterte Umarmung - von tieferer Weisheit als am 9. November kann ein Wink mit dem Zeitpfahl nicht sein. Dieses Datum darf natürlich nicht auf einen neuen „Tag der deutschen Einheit“ reduziert werden. Es muß, schul- und arbeitsfrei im gesamten geographischen Gebiet, als raumzeitliches Ereignisfeld deklariert werden, als Aussichtspunkt in die verborgene Landschaft der kollektiven Psycho-Energie, als ein Magnetfeld der Geschichte. Der Bevölkerung muß an diesem Tag vor allem Zeit gegeben werden. Um Vergangenheit und Zukunft zu beobachten, das Unerwartete zu erwarten und gegebenenfalls - geistesgegenwärtig zu handeln.

Mathias Bröckers