Gesetz des Stärkeren

Im Amazonasgebiet herrscht Krieg um Land. Das wird so bleiben, wenn Brasília nicht endlich handelt

AUS PORTO ALEGREGERHARD DILGER

„Brasilien kennt Brasilien nicht“, sagt Mary Allegretti. Wieder einmal, wie nach dem Mord an Chico Mendes 1988, blickt die Nation schockiert nach Amazonien. Damals arbeitete die Anthropologin Allegretti mit dem legendären Kautschukzapfer zusammen, der für sein Umweltengagement sterben musste. Von 1999 bis Ende 2003 koordinierte sie dann die Politik des Umweltministeriums für das Amazonasgebiet.

Seit nun am 12. Februar die Nonne Dorothy Stang im Bundesstaat Pará von Auftragskillern ermordet wurde, lernen die Brasilianer ihren „Wilden Westen“ täglich besser kennen. Dutzende Reporter beleuchten die Zustände in Pará, das dreieinhalb mal so groß ist wie Deutschland. Betroffene kommen zu Wort, und selbst über nötige Konsequenzen sind sich die meisten Experten und Politiker einig. Nun müsse endlich die wichtigste Ursache der Konflikte in Amazonien angegangen werden, fordert Allegretti: die illegale Aneignung öffentlichen Landes.

Landdiebe heißen in Brasilien grileiros, denn eine ihrer Methode ist, gefälschte Dokumente älter wirken zu lassen, indem man sie in Schachteln voller Grillen steckt. Derlei längst hinfällige Konzessionen, etwa für die Ausbeutung von Kautschuk, werden in abgelegenen Notariaten beglaubigt. Nachdem dann staatliche Stellen die „Landtitel“ anerkannt haben, kann man sie bequem weiterverkaufen. Die grileiros bleiben meist ungeschoren: Obwohl sich beispielsweise ab 1975 ein Strohmann namens Carlos Medeiros auf diese Weise eine Fläche von der Größe Portugals aneignete, ist es seither nicht gelungen, diese illegalen Titel zu annullieren und die dahinter stehenden Spekulanten zu verurteilen. Damals, in den 70ern, lockte das Militärregime Unternehmer und Kleinbauern nach Amazonien, um die Region zu „entwickeln“ und Landkonflikte anderswo zu entschärfen. Dabei wurden selten klare Eigentumsverhältnisse geschaffen. Und anders als bei der Kolonialisierung der USA gab es in Brasilien nie Obergrenzen für den Landbesitz. So gilt bis heute das Gesetz des Stärkeren.

Der Kreislauf der Zerstörung wiederholt sich nun: Die Holzmafia übernimmt die Abholzung des Tropenwaldes und die Vertreibung der Kleinpächter, die sie zuvor als Helfershelfer benutzt hat. Anschließend überziehen Rinderherden die gerodeten Ländereien. Der Fleischexport, auch nach Europa, boomt. Letzter Schritt bleibt die Umwandlung der Weiden in hoch mechanisierte Sojaplantagen.

Die von der Sojalobby mitfinanzierten Straßen wiederum locken wieder Kleinpächter und Holzfäller in den Regenwald. Die Knochenarbeit bei der Rodung und auf den Farmen übernehmen in der Regel arme Zuwanderer aus dem Nordosten, oft in sklavenähnlicher Abhängigkeit.

Anapu, wo sich Dorothy Stang für arme Kleinbauern eingesetzt hatte, ist ein Paradebeispiel für diese Entwicklung – und für mögliche Alternativen. Nach dem Bau der Transamazônica-Straße vor 30 Jahren sollten hier Großfarmen installiert und den Pächtern nach der Erfüllung eines Fünfjahrplans 3.000 Hektar Land übereignet werden. Doch obwohl die wenigsten Grundstücke intensiv genutzt wurden, forderte der Staat das Land nicht mehr zurück. In den Achtzigerjahren dann rodeten Kleinpächter die abgelegeneren Teile der Ländereien und versuchten am Holzeinschlag zu verdienen. Die Einwohnerzahl der 12.000-Quadratkilometer-Gemeinde hat sich so in den letzten fünf Jahren auf 30.000 verdreifacht, statt zwei Sägewerken gibt es nun 25.

Mit einem Tropenholzbaum lassen sich bis zu 5.000 Euro verdienen. Doch die Menschen vor Ort haben wenig von dem Reichtum: Die Landpächter erhalten pro Baum 60 Euro. Oder sie erlauben den Holzfirmen, für 1.000 Euro ein Fünf-Hektar-Areal zu roden. Ein Versuch, den Raubbau zu bremsen, sind „Projekte für nachhaltige Entwicklung“, die engagierte Kleinbauerngruppen und Kirchenleute um Dorothy Stang dem Staat in den letzten Jahren abgetrotzt hatten. Mit Unterstützung aus Brasília sollten in Anapu 600 Familien den Regenwald nutzen, ohne ihn zu zerstören – durch kontrollierten Holzeinschlag und Subsistenzwirtschaft.

Seither wurden die Aktivisten immer wieder von den Mächtigen Anapus und deren Banden bedroht. Der Auftraggeber für den Mord an Dorothy Stang zum Beispiel, der mit den Kleinbauern um ein Stück Land stritt, besitzt ein Sägewerk. Und der Bürgermeister, ein erklärter Gegner des Projekts, soll nach Aussagen der Mörder ebenfalls beteiligt sein. Bei seiner Vernehmung vorgestern stellte sich heraus, dass auch er illegal Staatsland besetzt.

Unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso von 1994 bis 2002 kam das „neue Modell einer Agarreform“ in Anapu kaum voran. Blockiert habe das der Gouverneur von Pará, ein Parteifreund des Präsidenten, erzählt Mary Allegretti. Auch aus der Ausweisung von Naturschutzgebieten, die das Umweltministerium vorbereitet hatte, wurde deshalb nichts.

„Wir haben nach dem Machtwechsel natürlich erwartet, dass Lula zuerst die Landfrage in Pará regelt und Maßnahmen gegen den Landraub erlässt“, erinnert sich Allegretti heute. Im November 2003 stieg sie frustriert aus dem Ministerium aus, denn „die neue Regierung machte deutlich, dass sie die Ausweitung des Agrobusiness unterstützt“.

Einige der Maßnahmen, die schon seit zwei Jahren in den Schubladen des Ministeriums liegen, will der Präsident jetzt doch umsetzen: Im Kerngebiet des in Pará noch erhaltenen Regenwaldes, der Terra do Meio, werden 50.000 Quadratkilometer als Reservate ausgewiesen. Weitere 80.000 Quadratkilometer entlang einer Bundesstraße sollen vorerst „blockiert“ bleiben. All das ist wichtig, lobt Mary Allegretti. Aber sie warnt auch: „Es ist immer noch nicht klar, welches Modell die Regierung für Amazonien will.“ So lange meint die Holzmafia, auch das Recht auf Gewalt zu haben.