„Es war Liebe!“

Im Prozess gegen Michael Jackson soll es nun auch um Jordie Chandler (13) gehen, der für 25 Millionen Dollar auf eine Klage gegen Jackson verzichtet hatte. Der Journalist Víctor Gutiérrez hat das Tagebuch des Jungen veröffentlicht

AUS LOS ANGELES HENNING KOBER

„Michael Jackson ist ein Pädophiler“, sagt Víctor Gutiérrez, „ohne Zweifel.“ Wir sind verabredet in der Lobby des Hollywood Hilton. Der 40-jährige Journalist sitzt auf der Sofakante, trägt schwarzes Sakko, Jeans, Brille. Er legt sein Buch auf den Glastisch vor uns. Es sind nur wenige Exemplare im Umlauf, bei Amazon kosten sie zwischen 300 und 1.000 Dollar. Der Titel: „Michael Jackson was my lover“.

Gutiérrez hat seit Ende der Achtzigerjahre recherchiert. Er ist der Wirklichkeit bedrohlich nahe gekommen. Jacksons gefürchteter „privater Ermittler“, Anthony Pellicano, bedrohte ihn mit dem Tod. Lange Jahre musste er außerhalb der USA verbringen. „Die Neunziger waren sehr hart für mich“, sagt Gutiérrez. Auf dem Titel des Buches ist ein Bild von Michael Jackson abgedruckt. Es zeigt den „King of Pop“ im längs gestreiften Pyjama mit schwarzem Hut, wenig Make-up. Geschossen hat das Foto Jordie Chandler, in seinem Kinderzimmer, wo Jackson wochenlang übernachtete. Gutiérrez’ Buch basiert in weiten Teilen auf dem Tagebuch, das der damals 13-jährige Jordie während seiner Beziehung mit Jackson schrieb. Was auf den 215 Seiten steht, ist sehr eindeutig, sehr intim. Michael Jackson und Jordie Chandler, heißt es, waren von Februar bis Juli 1993 ein Paar. Und sie hatten Sex.

Montag vergangener Woche war der Wendepunkt im Prozess gegen Michael Jackson. Richter Rodney Melville entschied, die Anklage dürfe der Jury über frühere Freundschaften Jacksons aus den Neunzigerjahren berichten. Es werden also Namen fallen wie Emmanuel Lewis, Jonathan Spence, Sean Lennon, Wade Robson, Albert von Thurn und Taxis, Jimmy Safechuck, Macaulay Culkin, Brett Barnes, Cory Feldman, Edward und Frank Cascio – und Jordie Chandler. Sie alle waren kleine Jungs, 10 bis 13 Jahre alt. Sie waren ausgesprochen hübsch. Sie waren Michael Jackson nahe. Und sind ihm jetzt gefährlich. Melvilles Entscheidung wird den Prozess erheblich verzögern, vielleicht bis in den Herbst. Und mit jedem Tag werden Jacksons Chancen für einen Freispruch dramatisch schwinden.

Jackson als Held der Pädophilen

Víctor Gutiérrez wächst in Chile auf. Er arbeitet für eine Zeitung in Santiago, schreibt über Politik und Menschenrechte. Zum ersten Mal in die USA kommt er 1984. In Los Angeles finden die Olympischen Spiele statt, Gutiérrez ist als Fotograf akkreditiert. Er reist nicht mehr zurück in sein Land, das von Pinochet regiert wird. „Der American Dream war zu verlockend“, sagt er. Schnell findet er Arbeit bei einer spanischen Zeitung in L. A., wird Polizeireporter.

1986 soll er von einem Kongress der North American Man Boy Love Association berichten. Die so genannte Nambla entstand Ende der Siebzigerjahre. Zunächst wurde die „Unterstützergruppe für Beziehungen zwischen den Generationen“ prominent von Gore Vidal und Allen Ginsberg gefördert, dann schnell von der übrigen Schwulenbewegung isoliert. Auf dem Kongress hört Gutiérrez zum ersten Mal: „Michael ist einer von uns.“ Ein Pädophiler. „Jackson wurde dort als Idol gehandelt, als Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz.“

Gutiérrez kündigt seinen Job bei der Zeitung, spricht mit Angestellten Jacksons, interviewt die ersten Jungen. Bald geht ihm das Geld für die Recherche aus. Er verkauft sein Auto, spart am Essen. Er lernt: Es gibt verschiedene Arten von Pädophile; sie ist so alt wie die Menschheit; nicht alle ihre Spielarten sind schreckliche Verbrechen. Víctor Gutiérrez sagt: „In den fünf Monaten ihrer Beziehung waren Michael Jackson und Jordie Chandler glücklich. Es war Liebe.“

Der 23. August 1993, ein Montag, ist D-Day. Die Welt erfährt: Michael Jackson soll ein Kind missbraucht haben. Howard Weitzman, Jacksons Anwalt, ruft Michael in Thailand an und überbringt ihm die schlechte Nachricht. „Jeder in der Welt weiß, dass ich Kinder liebe. Ich habe niemand verletzt“, ist Jacksons Reaktion. Er wirft Vasen gegen die Wand, weigert sich zu essen.

Die Eltern verdienen gut daran

Die Medien erledigen ihr Geschäft. Bald steht der Name des Jungen auf allen Seiten: Jordan Christopher Chandler, geboren am 11. Januar 1980. Ein schlanker, dunkelhaariger Junge, dessen Eltern sich scheiden ließen, als er fünf war. Getrennte Eltern sind eine Konstante bei fast allen jungen Freunden Jacksons. In allen Fällen, besonders extrem bei Jordie, nehmen die Eltern die unrühmlichste Rolle ein. Aus Gier nach Ruhm und Geld sind sie bereitwillig blind. „In Amerika habe ich gelernt, was stage parents sind“, so Gutiérrez – Eltern, die ihre Kinder zu Singwettbewerben schleppen und die Nähe von Stars suchen.

Gegen Cartier-Uhren, Kredite, Reisen und Aufmerksamkeit übersehen Jordies Eltern, dass ihr 13-jähriger Sohn wochenlang mit seinem fast dreimal so alten Freund in seinem Kinderbett schläft. Zur Eskalation kommt es, weil sich Jackson weigert, die Drehbücher zu kaufen, die Chandlers Vater geschrieben hat. Wütend informiert dieser die Behörden, leitet die Zivilklage ein.

Als Jackson von der Existenz des Tagebuchs erfährt, schließt er einen bizarren Vertrag mit Jordie, um die Eröffnung des Verfahrens zu stoppen. Er bezahlt in mehreren Etappen 25 Millionen Dollar, je eine Million davon an die Eltern. Jordie verpflichtet sich, nicht öffentlich über Jackson zu sprechen, die Klage zurückzuziehen. Bricht er sein Schweigen, muss das Geld zurückgezahlt werden. Da hatte die Staatsanwaltschaft bereits Nacktaufnahmen von Jackson angeordnet und durchgeführt. Die anatomischen Details decken sich mit den Beschreibungen Jordies.

Víctor Gutiérrez spricht unaufgeregt, mit spanischem Akzent. Er beantwortet alle Fragen, nur eine nicht. Wie er an das Tagebuch kam, will, darf er nicht sagen. Doch auf der ersten Seite steht: „Für Jordie. Danke für deinen Mut“. Jordie Chandler ist inzwischen 25, zurzeit versteckt vor den Medien. In den letzten Jahren lebte er zusammen mit seinem Freund, einem Investmentbanker, in New York. „Jordie war damals für sein Alter sehr reflektiert. Er ist sehr klug und sensibel“, sagt Gutiérrez. Es war Jacksons intensivste Beziehung. „Am Anfang wusste Michael nicht, was mit ihm los ist. Erst in den Neunzigern über das Internet erfuhr er mehr über Pädophile“, meint Gutiérrez.

Warum meldet sich keiner der Jungen zu Wort, anklagend oder verteidigend? Außer Macaulay Culkin hat keiner öffentlich für Jackson Partei ergriffen. „Alle haben Angst“, sagt Gutierrez. Nicht mehr vor Michael und dessen Macht, sondern vor der öffentlichen Meinung. „Es geht um Homosexualität“, meint Gutiérrez, „niemand möchte der schwule Jackson-Junge sein.“ Seine These: Hätte Madonna eine Affäre oder Liebesbeziehung mit einem Minderjährigen, es wäre ein weit geringerer Skandal. Auf dem Schulhof wäre der Junge ein Held. Als Geliebter Jacksons eine Tunte.

„In hundert Jahren sind solche Beziehungen vielleicht gesellschaftlich anerkannt“, sagt Gutiérrez. Die Geschichte erinnert ihn an Oscar Wilde und dessen jungen Liebhaber Bosi. Als Gutiérrez, selbst heterosexuell, 1995 nach einem Verlag für sein Buch sucht, bekommt er zu hören, er glamourisiere Pädophilie. Er veröffentlicht eine spanische Version in Chile. Die englische Übersetzung trägt er selbst in kleine Buchläden in Los Angeles. Michael Jackson klagt nie gegen das Werk. Seine Mitarbeiter schwärmen aus und kaufen jedes Exemplar, das ihnen in die Hände kommt.

Doch im gleichen Jahr, 1995, macht Víctor Gutiérrez einen Fehler. Zu Gast in der Fernsehshow „Hardcopy“, erzählt er Moderatorin Diane Diamond von einem Video, auf dem Michael Jackson beim oralen Sex mit seinen Neffen Jeremy, dem Sohn seines Bruders Jermaine, zu sehen sei. Eine Mutter habe ihm das Video gezeigt. Michael Jackson reagiert schnell und hart, er verklagt Gutiérrez auf 100 Millionen Dollar. Die Mutter bestreitet, je mit Gutiérrez gesprochen zu haben. Auch habe Jackson nie ihren Sohn missbraucht. Gutiérrez kann die Existenz des Bandes nicht beweisen. Die Jury verurteilte ihn zu einer Schadenersatzzahlung von 2,7 Millionen Dollar. Gutiérrez ist am Ende, macht Bankrott und flüchtet nach Chile.

Seit 2003 ist er zurück in Los Angeles und verdient zum ersten Mal Geld mit der Geschichte. NBC hat ihn als Berater engagiert. Die Produktionsfirma „Rituale World of Wonder“ hat das Buch optioniert. Randy Barbato und Fenton Bailey, die gerade mit dem Dokumentarfilm „Inside Deep Throat“ und zuvor mit dem Macaulay-Culkin-Comeback „Party Monster“ aufgefallen sind, schreiben zurzeit an einem Drehbuch. Im Gespräch für die Rolle des Journalisten Gutiérrez ist Danny de Vito.

MORGEN: Jordie Chandler und Michael Jackson – die Geschichte einer missbrauchten Liebe