Anstand und Stil im tazlab: Voll helles Bewusstsein

Auf dem taz.lab 2012 diskutierte die Philosophin Birgit Recki Haltungen, Anstand und Stil in der politischen Krise. Dokumentation ihres Vortrags.

Auch politische Gestaltung hat mit Stil zu tun und wirkt so als Türöffner zum guten Leben. Bild: kallejipp / photocase.com

Es kann nicht ausbleiben, dass die Fragestellung, so wie wir sie im Titel zu dieser Veranstaltung formuliert haben, auch wie eine Fußnote zu der nunmehr zwei Monate zurückliegenden Affäre anmutet, die zum Rücktritt des vorletzten Bundespräsidenten geführt hat. Oder dass sie Assoziationen auslöst an unsere vorletzte Affäre, an die Plagiatsaffäre Guttenberg, die nun schon ein gutes Jahr hinter uns liegt. Inaktuell ist sie aber deshalb auf keinen Fall, nur weil diese Affären jetzt durch ihr – in beiden Fällen viel zu lange hinausgezögertes – Ende schon wieder der Vergangenheit angehören.

Ich nutze die Gelegenheit, mit diesem Hinweis schon von Anfang an auf eine unerlssliche Bedingung des guten Lebens aufmerksam zu machen: volle Bewussteinshelle in allen Fragen, die von Belang sind – und zu dieser Bewusstseinshelle gehört die kompetente Erinnerung, gehört auch eine Erinnerungskultur, die uns wenigstens die Chance gibt, aus schon einmal vorgekommenen Fehlern zu lernen; und zwar auf beiden Seiten: auf der Seite derer, die die Subjekte dieser Fehler und auf der Seite derer, die die Adressaten einer Strategie waren, welche sich dann als Fehler erwiesen hat.

Ich gehe also davon aus, dass die Probleme, die vor kurzem akut waren, weiterhin aktuell bleiben, auch wenn sie im aktuellen Fall erst einmal gelöst zu sein scheinen. Denn welcher erwachsene Zeitgenosse würde angesichts des Zustandes unserer politischen Kaste und angesichts der Strukturschwäche des politischen Lebens wohl jetzt erwarten, dass es die letzte Krise dieser Art war, die wir zu unseren Lebzeiten erlebt haben werden? Mit anderen Worten: Die nächste Krise dieser Art kommt bestimmt – nach dem Skandal ist vor dem Skandal, und deshalb dürfte es sich durchaus lohnen, im Interesse an den (privaten wie politischen) Bedingungen des guten Lebens (noch) einmal über das Syndrom nachzudenken, das in dieser Situation auffällig geworden ist.

Dass in der politischen Auseinandersetzung und Repräsentation, dass namentlich in politischen Krisen eine Herausforderung nicht nur an das sachliche Standing und die demokratische Redlichkeit, die Belastbarkeit und den Einfallsreichtum, also: die Kreativität der Akteure ergeht, sondern gerade auch an ihren Anstand und ihr Stilempfinden, dürfte unmittelbar einleuchten; ebenso, dass wir uns gerade in politischen Krisen Anstand und Stil in besonderem Maße wünschen, damit zu den Sachproblemen nicht auch noch unnötig Porzellan in den menschlichen Beziehungen zerschlagen wird.

Krisen sind Orientierungskrisen

Krisen sind, egal worum es in der Sache geht, immer auch Orientierungskrisen, und die haben es an sich, dass eben nicht zu jedem Zeitpunkt feststeht, was und wie viel des Guten zu tun ist. Da dürfte Haltung, anständiger Umgang miteinander, guter Stil das konventionelle und individuell einzulösende Minimalprogramm sein, auf das nicht verzichtet werden darf – ein Medium gewissermaßen, in dem man es mindestens, solange die Orientierungsnot andauert, miteinander aushalten kann. Wie dramatisch die Krise ist, wie tief die Orientierungsnot reicht, wird dann allerdings häufig erst daran erkennbar, dass nicht einmal dieses Minimalprogramm eingelöst wird.

Das Ausmaß der Krise fällt den Beteiligten und Betroffenen nicht selten daran auf, dass mit einemmal der bestürzende Eindruck entstehen kann, die Kultur wäre nur eine ganz dünne Schicht Politur, mit der sich die Akteure für kurze Zeit ein bisschen Oberflächenglanz zu verschaffen suchten – und vergeblich. In solchen Situationen kann man dann sogar von erwachsenen Profis Sätze hören, bei denen einem die Ohren abfallen möchten: Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen. Solche politischen Akteure haben – wie man in der Weltgegend sagt, aus der ich komme – „nichts zuzusetzen“. Das muss man ins Hochdeutsche ungefähr übersetzen mit: da ist keine menschliche Substanz, auf die man zurückgreifen könnte.

Es ist aber sogar die Frage, ob die Problematisierung bis hierhin ausreicht – ob man nicht vielmehr weiter gehen und wahrnehmen muss, dass auch in der Entstehung der politischen Krise häufig bereits ein Mangel an Haltung, an Anstand und an Stil eine Rolle spielt, womöglich sogar ursächlich ist? Hätte sich die Affäre Wulff jemals so hochgeschaukelt, wäre sie jemals ernsthaft zur Krise geworden, wenn ihr Subjekt/Objekt nicht an der entscheidenden Stelle versagt hätte, an der Stelle, als es einen Satz auf die Mailbox eines Chefredakteurs sprach, den jeder kompetente Gesprächspartner als eine Drohgebärde aufgefasst hätte?

Auch wenn der Satz: „Wenn der Artikel so erscheint, dann wird das Konsequenzen haben“ nicht im juristisch belastbaren Sinne als Versuch der Behinderung der Pressefreiheit erwiesen ist – er ist ein Lapsus, ein Aussetzen im Konsens des Diskurses, eine unanständige Zumutung allererster Sorte, angesichts derer, so behaupte ich – jeder sich gesagt hätte: `Oho! Da wollen wir doch mal weitersehen ́.

Erwiesene Fehler

Und ganz offenbar hat das auch nicht nur der direkte Adressat gedacht, sondern eine Menge Kollegen über die verschiedensten Redaktionswände hinweg, so dass man eigentlich sehr schnell wissen konnte, was bei aller Offenheit im Ausgang der Ermittlungen der eigentliche, vor allen Ermittlungsergebnissen erwiesene Fehler gewesen war – ein Fehler, in dem sich mangelnde Gediegenheit der demokratischen Grundintuition und mangelnde Sicherheit im Stil der verbalen Performance auf das unschönste miteinander paarten.

Soviel nur zur Stützung der Option, von der ich hier ausgehe: dass schon im Entstehen von politischen Krisen auch Stilfragen eine Rolle spielen können. Doch das ist nichts alles. Der schlechte Stil, das Sichvergreifen in der Form des Agierens, spielt vor allem im Zentrum des Problems eine Rolle. Wenn ich mich nicht sehr vertue, dann hat die Krise um den verflossenen Bundespräsidenten Wulff mit anderen Skandalen und Affären im politischen Leben dieses Landes eine strukturelle Gemeinsamkeit, und die ist es, die ich gern unter den Stichwörtern Haltung, Anstand, Stil genauer betrachten möchte.

Wir alle kennen die nahezu gesetzmäßige Verlaufsform, die der Prozess der Beschuldigung und Exkulpation politischer Akteure regelmäßig nimmt, sobald Zweifel an der Rechtmäßigkeit, Redlichkeit, der Unverfänglichkeit, der unzweifelhaften Distanz zu allem, was korrumpieren und kompromittieren könnte, und dann immer auch an der Transparenz des Agierens aufkommen, sobald also die Ansprüche, unter denen verantwortliche Amtspersonen nun einmal stehen, zu Vorwürfen werden.

Diese Verlaufsform ist ausnahmslos immer dieselbe, meines Wissens haben wir (zumindest in der Politik) noch keinen einzigen Fall erlebt, der als Ausnahme namhaft gemacht werden könnte, es scheint sich geradezu um eine jener Eigendynamiken zu handeln, für die wir den Ausdruck „Sachzwang“ reservieren, aber wir haben gute Gründe, die Intuition ernstzunehmen, dass es doch kein Sachzwang sein muss, dass die Eigendynamik, die da vor uns abläuft, eben nicht zwangsläufig ist.

Appell zur Taktik

Es gibt Alternativen. Und weil es dann doch wieder einmal so abläuft, wie wir es schon zigmal in vorangegangenen Fällen erlebt haben, geraten so viele Menschen in ihrer Eigenschaft als Bürger inzwischen an den Rand der Verzweiflung oder doch zumindest an die Grenze ihrer Toleranz, und der Ausdruck „Politikverdrossenheit“ ist jedem, der ihn hört, sofort verständlich.

Ich spreche davon, dass der Träger von Verantwortung im politischen Prozess, sobald seine Redlichkeit in Zweifel gezogen ist, seinen Ehrgeiz darin sieht, so gut wie möglich aus der Sache herauszukommen, und dieses Programm als Lizenz, womöglich sogar als Appell zu der Taktik begreift, immer soviel und genauso viel zuzugeben und zu erklären, wie ihm im Prozess der Vorwürfe und der Anschuldigungen bereits positiv nachgewiesen werden konnte. Und kein Stück mehr.

`Salamitaktik ́ ist die gebräuchliche Metapher für dieses scheibchenweise Abschneiden von Portionen der ganzen Wahrheit, und die Haltung, in der diese Taktik ausgeübt wird, ist gerade nicht die der Wahrhaftigkeit – dieses Vorgehen ist vielmehr genauso wahrheitswidrig wie die absichtsvolle flächendeckende Lüge. Ein entscheidender Anteil an dieser Haltung der Unredlichkeit besteht gerade darin, dass in diesem Verfahren eine Taktik zu sehen ist, die insofern im Unterschied zu einer Strategie steht, als diese dazu taugt, ein ganzes Feld effektiv, da langfristig zu organisieren, während die Taktik nur ein kurzfristiges Manöver darstellt: Doch haben Taktik und Strategie immerhin eine signifikante Gemeinsamkeit – den instrumentalisierenden Umgang mit den Menschen und mit der Wahrheit, auf die die Menschen einen Anspruch haben.

Zeichen der Stunde

Was wir uns stattdessen nicht nur wünschen, sondern auch für richtig und sogar für möglich halten, wäre ein taktik- und strategiefreies Agieren: dass die Zeichen der Stunde erkannt und daraufhin die Karten offen auf den Tisch gelegt werden. (Der Ministerpräsident Kretschmann hat in seinem Podiumsgespräch auf dem tazlab m.E. zu Recht darauf insistiert, dass es tendenziell fanatisierend und politikwidrig sei, wenn in der politischen Auseinandersetzung das Unterliegen der Minderheit als Unterdrückung der Wahrheit durch die Mehrheit denunziert wird; mit anderen Worten: die Meinungsbildung und Entscheidung unter dem Mehrheitsprinzip darf nicht unter das Modell von Wahrheit und Lüge subsumiert werden.

Dass es im Prozess der politischen Entscheidung in diesem Sinne nicht um Wahrheit, sondern um Interessenvertretung geht, diese Zurückweisung des Wahrheitsanspruchs für die Politik ist übrigens eine der Positionen, die Hannah Arendt in ihrer politischen Theorie vertritt. – Damit ist aber nicht gemeint, dass Wahrheit in der Politik überhaupt keine Rolle spielte. Selbstverständlich gibt es in der Politik eine Ebene – die Ebene, auf der man sich gegenseitig Rede und Antwort steht, und auf der es auch hier einen ebensogroßen Unterschied macht wie im privaten alltäglichen Leben, ob man die Wahrheit sagt oder lügt.)

Warum geschieht das nicht, dass Politiker, wenn sie unter Verdacht und Vorwurf geraten, die Zeichen der Stunde erkennen und daraufhin die Karten offen auf den Tisch legen? Warum ziehen die Akteure aus den Schiffbrüchen ihrer Vorgänger nicht diese einfache Lehre, sich im Ernstfall, wenn man schon unter Verdacht und Vorwurf steht, so nicht zu blamieren, wie man sich nur blamieren kann, wenn man sich von der langsamen aber zwangsläufigen Aufdeckung der Wahrheit durch eine misstrauisch und ehrgeizig gewordene kompetente Öffentlichkeit vorführen lässt?

Der Grund, warum noch kein in die Krise geratener Politiker gemäß diesem Wunsch des Publikums gehandelt und im Augenblick der Anklage (wegen Vorteilsnahme, wegen Nepotismus, wegen Bestechlichkeit u.ä.) die ganze Wahrheit offenbart hat, scheint zum einen ganz simpel zu sein: Der über institutionellen Einfluss und über Macht verfügende, durch die Dignität des Amtes prominente Akteur traut sich zu, die Fäden auch nach Beginn der Krise zumindest soweit in der Hand zu behalten, dass er das Ausmaß der kompromittierenden Informationen noch ultimativ kontrollieren kann.

Das heißt aber nichts anderes als: Er fühlt sich selbst per se dem Rest der Menschheit überlegen, weil er sich für schlauer hält. Und das ist es dann, was sich mit dankenswerter Häufigkeit als Illusion erweist.

Schwerer Denkfehler

Abgesehen davon, dass hier ein schwerer Denkfehler liegt oder vielleicht sogar ein Mangel an Intelligen, da es ja gerade nicht besonders schlau, sondern im Gegenteil eine schwere Dummheit ist, sich dieser Illusion der Überlegenheit über den Rest der Welt hinzugeben, das Fatale daran nicht zu durchschauen – abgesehen davon liegt in dieser verkehrten Haltung auch der beklagte Verlust an Anstand und Stil. Es ist eine verkehrte Haltung, den Rest der Menschheit für dümmer zu halten als man selbst es ist; und abgesehen davon, dass es unmoralisch ist, andere Menschen durch taktischen Umgang zu instrumentalisieren, ist es schlechter Stil.

Doch das ist nicht das einzige, das man an diesem fatalen Muster: nicht mehr zuzugeben, als die anderen bereits wissen, festhalten muss. Der markanteste Punkt, der an dieser Struktur auffällt, ist doch dieser: Wer so vorgeht, handelt entsprechend den Regeln eines Strafrechtsprozesses. In einem Strafrechtsprozess gilt für die Verteidigung des Angeklagten mit der methodischen und methodisch sehr sinnvollen Unschuldsvermutung auch die Maxime, ihn so gut wie möglich dastehen zu lassen, und das beinhaltet, dass dem Angeklagten nicht zugemutet werden kann, etwas zu sagen oder zu tun, das ihn selbst belastet.

Er hat das Recht, nicht mehr zu sagen, als ihm vorgeworfen wird, und er hat das Recht, nicht mehr zuzugeben, als ihm nachgewiesen werden kann. Was wir regeläßig in unseren politischen Skandalen erleben müssen, ist also die keineswegs selbstverständliche Übertragung dieses Modells vom Gerichtsprozess auf den zivilen, unter wechselseitigen moralischen Ansprüchen stehenden Umgang miteinander, wie er in der politischen Öffentlichkeit stattfindet. Darin hat man zunächst einen Kategorienfehler zu erkennen: Die bürgerliche Öffentlichkeit, das politische Leben ist kein Strafrechtsprozess und überhaupt kein Tribunal.

Wer in der Öffentlichkeit die Rolle des Angeklagten performiert, verwechselt etwas. Und es ist diese Verwechslung, in der mit dem Problem der Selbstdemontage auch das Problem des Anstands- und Stilverlustes entspringt. So unverzichtbar, wie das Recht als institutioneller Rahmen des politischen Prozesses ist – es wäre dringend erforderlich, dass die politischen Akteure aufhörten, das Modell des Strafrechtsprozesses immer dann zu missbrauchen, wenn sie in die Krise geraten und im Vorfeld verhindern wollen, dass man ihnen den Prozess macht.

Rolle der Urteilskraft

Was damit aber in den Horizont der Überlegung kommt, ist die Rolle der Urteilskraft im politischen – und wie man gleich ergänzen darf: übrigens auch im privaten – alltäglichen Leben. Urteilskraft ist das Vermögen, Unterschiede zu machen, der Distinktion und Differenzierung, das intellektuelle wie emotionale Organ der Angemessenheit, der Angemessenheit unserer Reaktion auf die Herausforderungen der Situation.

Schon Aristoteles hat die Urteilskraft als die entscheidende Kapazität der praktischen Vernunft begriffen, als die abwägende Klugheit, mit der wir im Handeln das richtige Maß treffen, Kant hat die Urteilskraft sowohl in der Erkenntnis wie im Geschmacksurteil betont, als die Fähigkeit, etwas als das zu erkennen, was es ist, es weder zu überschätzen noch zu unterschätzen, es vor allem nicht in die falsche Schublade einzuordnen; aber auch: auf dieser Basis einer richtigen Zuordnung in reflektierter Weise darauf einzugehen und damit umzugehen.

Damit bin ich auch an dem Punkt, an dem die Erinnerung an Hannah Arendt angezeigt ist. Hannah Arendt (1906-1975), die große Dame der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, geht über ihre beiden großen Vorgänger noch einen entscheidenden Schritt hinaus und sie setzt zudem ihren eigenen Akzent, indem sie – wie wir ihren Studien der 60er Jahre entnehmen – die Politik insgesamt in der Urteilskraft begründet sieht, und daran die Fähigkeit zur anteilnehmenden Reflexion auf die Befindlichkeit und die Interessenlage der Anderen betont.

Durch diese Fähigkeit kann die Einstellung auf die Gemeinsamkeit zwischen den Menschen und auf die praktische Solidarität mit den Anderen zum verbindlichen Gedanken und zum belastbaren Element gemeinsamer Praxis werden. Arendt beruft sich nachdrücklich auf Kant, um diesen Grundgedanken ihrer eigenen politischen Theorie zu erläutern: Es gibt tatsächlich bei Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) eine Überlegung, die dazu angetan ist, die Funktion des reflektierenden, die Gemeinsamkeit mit den Anderen herstellenden Urteilens im Zusammenhang des praktischen Handelns zu klären.

Operation der Reflexion

Wir versetzen uns in einer „Operation der Reflexion“ an die Stelle jedes anderen, wenn wir herauskriegen wollen, ob unser Handeln allgemein zumutbar, also: gerechtfertigt ist, wir überwinden auf diese Weise das Partikulare unseres eigenen Interessenstandpunktes, indem wir unsere Vernunft gewissermaßen an die der ganzen Menschheit halten. Dass diese „Operation der Reflexion“ Stationen machen muss in den Standpunkten bestimmter anderer Individuen, dass wir m.a.W. nicht ganz und gar abstrakt von unserer eigenen Position den Zugang zur ganzen Menschheit haben, liegt auf der Hand.

Aber im Grunde finden wir auf diese Weise heraus, was allgemein verlangt und zugemutet werden kann. Sich an die Stelle jedes Anderen zu versetzen – das trägt einen elementaren Impetus der Anerkennung, es trägt ein egalitäres Ethos des Agierens auf gleicher Augenhöhe und ist insofern auch der Nukleus eines demokratischen Selbstverständnisses, an dem zugleich eine Dimension der Empathie erkennbar wird, dadurch, dass eine solche Reflexion für Arendt nicht anders zu leisten ist als unter Einsatz unserer ganzen Phantasie, mit der wir uns in den Anderen und in seine Lage hineinversetzen.

An der Stelle des Anderen denken, das bedeutet die Bereitschaft, eine ganze Staffel der Empathie zu durchlaufen: allem voran die Bereitschaft, sich vorzustellen, dass der Andere dieselben berechtigten Ansprüche auf Wahrung seiner Integrität, seiner Interessen, auf Erfüllung seiner Wünsche hat wie ich selbst; dann aber auch, sich mithilfe der eigenen Phantasie (also anschaulich nund konkret) vorzustellen, wie es ihm zumute ist, wenn er die Folgen meines Handelns zu erleiden hat.

Hannah Arendt zweckentfremdet diesen Gedanken Kants im Grunde, wenn sie ihn von vornherein als Grundlegung des Politischen begreift, zumindest spitzt sie ihn auf die politische Praxis zu, während er laut Kant schlechthin alles menschliche Agieren betrifft, also viel allgemeiner gefasst ist. Das hat immerhin der Vorzug der Deutlichkeit, wenn wir uns fragen, worin sie die Grundlage des Politischen sehen will: in der Urteilskraft, im reflektierenden Urteil, in dem wir mitdenken und uns in den Anderen hineinzuversetzen suchen. Nach meiner Auffassung spricht vieles dafür, die so betonte Funktion der Urteilskraft wie Kant nicht ausschließlich für die Politik reservieren zu wollen, sondern sie vielmehr weiter zu fassen, indem man sie auch im alltäglichen privaten Leben wahrnimmt.

Es spricht aber gleichwohl vieles für Arendts kritische Diagnose, dass es diese Fähigkeit und Bereitschaft ist, die ausfällt, wo immer politische Akteure den berechtigten kommunikativen Anspruch der Anderen auf Achtung, auf Rechenschaft: auf Transparenz und volle Wahrheit, in seinem elementaren Status missachten, indem sie ihn nach dem Modell des Strafrechtsprozesses mit taktischer Informationsdosierung wie in einem institutionellen Schlagabtausch zwischen Staatsanwalt und Rechtsanwalt abfertigen.

Was dann vorliegt, ist ein doppeltes Defizit: Zum einen ist es bereits ein Mangel an reflektierender Urteilskraft, die Anderen für dumm zu halten, anstatt sich an die Stelle jedes Anderen zu versetzen, wodurch man in der Unterstellung gleichrangiger und gleichwertiger Intelligenz immer schon auf einen eigenen Überlegenheitsvorbehalt verzichtet, sondern sich vielmehr auf gleiche Augenhöhe mit ihnen begibt. Zum anderen zeigt sich ein weiteres Defizit an Urteilskraft in der Verwechslung der normativen Charaktere unserer Diskurse: Die Mitbürger und Mitmenschen haben – ceterum censeo – einen ganz anders bemessenen Anspruch auf Wahrheit, als ihn der Ankläger in einem Strafrechtsprozess geltend machen kann.

Zum Schluss würde ich gern einen Einwand vorwegnehmen und entkräften, der zwar in dem Maße schon gegenstandslos geworden sein könnte, indem es mir womöglich gelungen ist, mit meinen soeben angestellten Überlegungen etwas deutlich zu machen, der aber nach meiner Erfahrung gerade den kritischen Zeitgenossen nahe liegt. Haltungen, Anstand und Stil – insbesondere die letzte Kategorie: Stil, dürften sich diesem Einwand ausgesetzt sehen: Gibt es für den problembewussten Zeitgenossen nicht etwas Wichtigeres als Stilfragen?

Gerade den großen Titel „Das gute Leben – Es gibt Alternativen“ könnte man so verstehen, als ob damit doch drängende Fragen von einiger Größenordnung angegangen werden sollen, drängende Menschheitsfragen in Theorie und Praxis. Nun gilt ebenso für die Probleme der harten Realität wie für die großen philosophischen Menschheitsfragen nach unserer Stellung in Raum und Zeit, nach Ich und Welt, nach Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit (und Kant zufolge: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?) – für alle damit angeschnittenen Probleme, dass sie sich nicht auf Stilfragen zurückführen lassen, sondern schwerer wiegen.

Vom Wesentlichen ablenken

Nach diesem Befund könnte es so aussehen, als ob die Beschäftigung mit Stilfragen – ob absichtlich oder ungewollt – geradezu die Funktion hätte, vom Wesentlichen abzulenken. Anders ausgedrückt: Stilprobleme ernstzunehmen wäre ein Form der Ideologie. Einen solchen Einwand muss man nicht erst erfinden, er begegnet einem tatsächlich. Nicht wenige Zeitgenossen dürften ihn einleuchtend finden.

Dagegen ist vor allem eines zu sagen: Die Einstellung von Menschen auf die Wirklichkeit und ihre Probleme ist ein „Inklusivpaket“, in dem Begriffe, Gedanken, gedankliche Auseinandersetzung, Konzeptbildung dazugehören. Zur menschlichen Praxis gehört das Denken, auch das Nachdenken; damit aber auch der Abstand, die Reflexionsdistanz, die dazu erforderlich ist, die geschützten, auch institutionell geschützten Räume, in denen das Denken und das Nachdenken als Methode kultiviert wird. Mit der Anerkennung der Notwendigkeit dieses Distanzmediums der Reflexion ist man aber immer schon auch in Distanz zu den Problemen der harten Realität.

Der Dogmatismus des Sichverpflichtens auf die harte Realität und die Bewältigung ihrer Probleme ist von daher nur um den Preis der Schizophrenie (man kann auch deutlicher sagen: der Verlogenheit), nämlich um den Preis des Ausblendens von elementaren Tatsachen zu haben, die schlichtweg dazugehören, die nicht per Dekret ausgeschaltet werden können. Wenn man versuchen würde, ihn ernsthaft zu vertreten, dann müsste man nicht erst bei Stilfragen und Anstandsfragen den Ideologieverdacht (oder Luxusverdacht) geltend machen, sondern auch schon in den Fragen, die ich gerade als die großen philosophischen Menschheitsfragen angeführt habe, und konsequent auch schon gegenüber allen Veranstaltungen, mit denen man sich überhaupt die Zeit nimmt, gründlich methodisch und das heißt immer auch: mit Abstand von den realen Problemen und in geschützten Räumen über diese nachzudenken.

Wenn der Einwand gegen das Ernstnehmen von Stilfragen somit durch den Hinweis entkräftet werden kann, dass er sich per se nicht konsequent aufrechterhalten lässt, dass er m.a.W. inkonsistent ist, dann heißt das aber nicht, dass man auch schon ein Argument hätte, sich mit Fragen von Stil und Anstand auseinanderzusetzen; keinen Einwand gegen etwas zu haben – daraus folgt schlichtweg nicht, auch schon einen guten Grund dafür zu haben. Deshalb bleibt immer noch die Frage: Weshalb sollen wir uns damit befassen, und nicht lieber mit etwas anderem?

Beschädigung der Lebensperspektive

Wenn der Hinweis auf die Instrumentalisierung der Öffentlichkeit soeben noch nicht drastisch klar gemacht hat, welche Verfälschung, ja: Beschädigung unserer Lebensperspektiven auch in dem schlechten Stil politischer Akteure auf dem Spiel steht, dann muss man eigens auf den Horizont hinweisen, in dem er steht. Es gibt allerdings eine große Menschheitsfrage, bei der man durchaus ins Nachdenken kommen und finden kann, dass sie auch das Ernstnehmen von Stilfragen mit abdeckt. Das ist das Glück der Menschen, auf das die Idee des guten Lebens immer auch hinauslaufen soll.

Im Begriff des guten Lebens, in dem der Anspruch auf Selbstbestimmung artikuliert ist, auf Handeln nach eigener Einsicht, auf einen Lebensplan, in dem man zu sich selber und zu seinen Verhältnissen stehen und sie bejahen kann, geht es um das menschliche Glück. Damit ist „das gute Leben“ ein Begriff, der aufs Ganze geht und den ganzen Menschen erfasst. Dazu gehören nicht nur ethische und politische Bewertungen.

Der Anspruch auf ein gutes Leben schließt immer auch die ästhetischen Qualitäten der Welt und des Lebens und des eigenen Agierens mit ein, ja er läuft zwangsläufig auf einen Gestaltungsanspruch hinaus, der nicht nur einzelne stationäre Probleme betrifft, sondern sich auf das Ganze der Lebensführung und den ganzen Menschen erstreckt. Ihn einzulösen, beinhaltet immer auch das Achten auf die angemessene Form seiner Realisierung. Das heißt: Das gute Leben hat auch eine ästhetische (und damit übrigens immer auch eine technisch-pragmatische) Dimension!

Denn Gestaltung hat es immer auch mit Formfragen zu tun, und auf diese Weise deutet sich vielleicht an, dass und wie der Begriff des Stils als Exponent eines wie sehr auch immer individuell geprägten Anspruchs auf angemessene Form mit dazu gehört, wenn es um das gute Leben geht. Wenn man im Einzelnen erläutern soll, was denn ein Leben wäre, dann wird man immer auch ein schönes Leben im Sinn haben. Stil darf insofern als Kategorie des Überganges zwischen ästhetischer und ethischer Bewertung gelten.

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