Anthroposophische Medizin: Sie quälen sich mit Schmerzen

In der Anthroposophie sind Kinderkrankheiten für eine gesunde Entwicklung unverzichtbar. Es kann zu medizinischer Vernachlässigung von Kindern führen.

Tabletten, die auf einem Tisch liegen

Schmerzmittel werden in der anthroposophischen Medizin als gewaltsame Manipulation von natürlichen Prozessen gesehen Foto: Patrick Sison/AP

Masern, Windpocken, Mumps, Röteln, Keuchhusten – ich hatte alles, denn als gutes Waldorfkind war ich nicht geimpft. Behandelt wurde ich mit Globuli, Hausmitteln und Präparaten von Weleda, Wala und Co. Ich erinnere mich an intensive Gefühle von Umsorgtsein. Aber ich erinnere mich auch an beängstigende Fieberträume, heftige Schmerzen und ein unerträgliches Jucken.

In meiner Kinderwelt war das alles normal und gehörte nun mal dazu. Nach den Schmerzen und dem Elend kam dann die zähe Langeweile, denn in der vermaledeiten „Kindersprechstunde“, einem Standardwerk für Waldorfeltern seit 1984, wird von jeglicher „Berieselung“ mit Medien aller Art und sogar dem Blick auf gemusterte Tapeten streng abgeraten.

Das Thema Impfungen und Schmerzmittel ist wahnsinnig emotional und kontrovers unter ehemaligen Waldorfkindern, denn es ist sehr eng mit Schmerzen und Ängsten, aber auch mit Liebe und Vertrauen in die Eltern verbunden. Ich war lange loyal und habe nicht hinterfragt, ob man Ohrenentzündungen auch anders hätte behandeln können als mit Zwiebelsäckchen und „den richtigen“ Zuckerkügelchen. Mein erstes Schmerzmittel nahm ich mit über 20 – bei einer heftigen Gehörgangsentzündung, wegen der ich auch zum ersten Mal in einer Notaufnahme und von der Wirkung einer antibiotischen Salbe beeindruckt war.

Vermeidbares Leid

Durch den Austausch unter #exwaldi weiß ich, dass es nicht nur viel vermeidbares Kinderleid gab und gibt, sondern auch Fälle, wo Kinder beispielsweise für den Rest ihres Lebens auf einem Ohr taub wurden, Geschwisterkinder wahnsinnige Angst hatten und wo Kinder nur noch durch Intensivmedizin oder gar nicht mehr gerettet werden konnten. Zuvor kannte ich nur die heroischen Krankheitsgeschichten, die im Waldorfumfeld gerne erzählt wurden.

Anthroposophische Medizin ist keine „sanfte Medizin“. Es ist eine „Medizin“, in der Schmerz eine nicht wegzudenkende, zentrale spirituelle Rolle spielt. Auch bei Kindern! Es ist eine medizinische Weltanschauung, in der Schmerzmittel als gewaltsame Manipulation von natürlichen Prozessen gesehen werden und Kinderkrankheiten für eine gesunde Entwicklung unverzichtbar sind. Das kann zu medizinischer Vernachlässigung von Kindern führen. Zu realisieren, welches Ausmaß an Schmerzen und Elend mir meine Eltern hätten ersparen können und dass sie mich unnötig gefährdet haben – das ist hart. Ich weiß, es war in bester Absicht und in vollstem Vertrauen zu unserem anthroposophischen Kinderarzt.

Aber was war damals außerhalb der Waldorfgemeinschaft normal? Die Stiko empfahl die Masern- und Rötelnimpfung seit 1973, Mumps seit 1976 und seit 1980 dann MMR als Kombi. Keuchhusten seit 1991 und Windpocken seit 2004. Paracetamol war seit 1959 auf dem Markt und Ibuprofen ist seit 1989 rezeptfrei erhältlich.

Erst mit 30 habe ich in einer niederländischen Drogerie mit gemischten Gefühlen meine erste Packung gekauft. So viele von uns haben sich wie ich Jahrzehnte ohne Schmerzmittel oder auch Antihistaminika gequält. Wenn man nur Placebo und Hausmittel gewohnt ist, sind schnell wirksame Medikamente im Erwachsenenalter eine Offenbarung.

Überhaupt: Wirksame Medikamente! Es gibt sie und es gab sie auch damals schon. Sie wurden (und werden) vielen Waldorfkindern leider aus ideologischen Gründen vorenthalten.

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