Archäologin über koloniale KZs: „Die Hälfte der Internierten starb“

Die Haifischinsel in Namibia barg von 1905 bis 1907 das berüchtigteste Konzentrationslager Deutsch-Südwestafrikas. Katja Lembke hat es erforscht.

Zeigt einen Gedenkstein und den Platz davor auf der kargen, felsigen Insel vor der namibischen Stadt Lüderitz, wo sich früher das Nama-Lager befand.

Der Gedenkstein für den Nama-Anführer Cornelius Fredericks enthält keinen Hinweis auf das Lager Foto: Katja Lembke

t az: Katja Lembke, Sie sprechen bei der Haifischinsel vom „ersten deutschen Konzentrationslager“. Das müssen Sie erklären.

ist Archäologin, Ägyptologin und Direktorin des Landesmuseums Hannover. 2022 hat sie – zusammen mit Wolfgang Rabbel von der Uni Kiel einen archäologischen Survey auf der Haifischinsel geleitet und die Überreste des Lagers vermessen. Die Ergebnisse sind in dem populärwissenschaftlichen Buch „Die Haifischinsel. Das erste deutsche Konzentrationslager“ dokumentiert. Am 31. Oktober hält Lembke im Kino im Künstlerhaus in Hannover einen Einführungsvortrag zum Film „Der vermessene Mensch“.

Katja Lembke: Wir denken bei dem Wort „Konzentrationslager“ natürlich zuerst an die NS-Zeit. Tatsächlich gab es aber eben vorher schon Konzentrationslager. Die Bezeichnung stammt nicht von mir, sondern vom damaligen Reichskanzler von Bülow, der die Lager einrichten ließ, nachdem er den Vernichtungsbefehl, den General Lothar von Trotha gegen die Herero und Nama ausgesprochen hatte, zurückgenommen hatte. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Intention dieser Lager war zunächst einmal eine andere als in der NS-Zeit. Sie dienten nicht von vornherein der Vernichtung.

Wenn es nicht um Vernichtung ging, um was denn dann?

Zunächst einmal kopierte man damit ein System, dass die Briten schon in Südafrika angewandt hatten. Man versammelte die Bevölkerung, um sie „zu schützen“, aber auch zu kontrollieren. Man muss sich klar machen, dass diese Vernichtungspolitik, die Lothar von Trotha vorher betrieben hatte, dazu führte, dass die Menschen ohne Essen und Trinken in die Wüste getrieben wurden. Zehntausende starben, wer überlebte, war oft nur noch ein Gerippe – wir sehen das auch auf den Fotos aus dieser Zeit. In den Sammellagern sollten Missionare zunächst einmal dafür sorgen, dass diese Menschen wieder aufgepäppelt wurden. Natürlich auch, weil man sie als billige Arbeitskräfte benötigte – etwa für den Eisenbahnbau.

Trotzdem waren die Todesraten hoch.

Ja, man schätzt, dass fast die Hälfte der Internierten starb. Das lag zum Teil daran, dass sie in so schlechtem Zustand ankamen, zum Teil aber auch daran, dass man mit dieser Versorgung vollkommen überfordert war. Es mangelte an allem: Essen, Kleidung, Behausungen. Krankheiten breiteten sich aus, dazu kamen harte Arbeit und Gewalt. Die Bedingungen waren einfach katastrophal, das galt für alle Lager, für die Haifischinsel aber ganz besonders.

Warum stach die Haifischinsel in diesem Lagersystem heraus?

Es gab gezielte Transporte dorthin, wie später in der NS-Zeit. Das Lager lag abseits der vertrauten Stammesgebiete, sowohl der Herero als auch der Nama. Auch die klimatischen Bedingungen dort sind ausgesprochen rau: Es ist ständig windig, neblig, feucht, das Wasser ist kalt. Es spricht vieles dafür, dass von Trotha, als er diesen Ort auswählte, eigentlich seine Vernichtungspolitik mit anderen Mitteln fortsetzen wollte. Es gibt eben auch Berichte, die zeigen, dass die Soldaten weiter Jagd auf diese Menschen machten, das endete erst mit der Abberufung von Trothas Ende 1905.

Das Lager bestand aber noch mehr als ein Jahr weiter. Warum wurde es am Ende aufgelöst?

Man sah wohl ein, dass die Todeszahlen zu hoch waren. Es gibt beispielsweise einen Bericht, nach dem von 1.600 Nama, die im Oktober 1906 als Arbeitskräfte für das Hafenamt zur Verfügung stehen sollten, zu Weihnachten nur noch 30 bis 40 Männer arbeitsfähig waren. Außerdem wurde der Krieg für beendet erklärt.

Wenn Sie sagen, es gab hier – anders als bei den KZs der Nazis – keine Vernichtungsabsicht, setzt man sich damit nicht dem Vorwurf der Relativierung aus?

Ja, das ist eine schwierige Frage. Es gibt ja die wirklich bahnbrechende Arbeit von Caspar W. Erichsen, die dieses Thema Anfang der 2000er-Jahre überhaupt erst wieder ins Bewusstsein gerückt hat. Er hat das später sehr zugespitzt in seinem mit David Olusoga veröffentlichten Buch „The Kaiser’s Holocaust“. Das finde ich sehr problematisch, denn man muss einfach sehen: Es gab hier einen Genozid-Befehl, der wurde aber nach wenigen Wochen aufgehoben. Das ist etwas völlig anderes als die systematische Ausgrenzung und Vernichtung der Juden über Jahre hinweg. Auch die Tatsache, dass man die Lager nach zwei Jahren aufgegeben hat, spricht ja dafür, dass hier noch eine andere Haltung am Werk war als in der Nazizeit.

Sie haben das auf die Formel gebracht: „Die Haifischinsel war nicht Auschwitz, aber sie war ein Schritt auf dem Weg dorthin.“

Das hat ja letztlich schon Hannah Arendt postuliert. Und wenn Sie sich die Bilder im Buch ansehen, sehen Sie sehr genau diese rassistische „Herrenmenschen“-Haltung, die die Nationalsozialisten letztlich auf die Spitze getrieben haben. Auch die zeitgenössischen Berichte sprechen da eine deutliche Sprache. Und von der Haifischinsel wurden Schädel für Forschungen zur „Rassenkunde“ nach Berlin geschickt.

In ihrem Buch zur Haifischinsel zeigen Sie viele Bilder, die schwer auszuhalten sind. Vor allem auch, weil sie diese Ideologie ja letztlich noch einmal reproduzieren.

Wir haben darüber lange diskutiert und manche Personen aus ethischen Gründen anonymisiert. Es gab Aufnahmen, bei denen ich gesagt habe: Das lassen wir vielleicht lieber weg. Es war dann oft meine namibische Kollegin Emma Haitengi, die darauf bestand, sie aufzunehmen. Und ich glaube sie hat recht: Es ist wichtig, sich mit diesen Bildern zu konfrontieren, auch wenn sie brutal sind. Wir müssen da auch aufpassen, dass wir uns keine falsche Zurückhaltung auferlegen.

Wie wurden Ihre Forschungsergebnisse vor Ort aufgenommen?

„Sie sehen sehr genau diese rassistische,Herrenmenschen'-Haltung, die die Nationalsozialisten letztlich auf die Spitze getrieben haben“

Ich habe gerade vor ein paar Tagen gehört, dass der Campingplatz, der sich auf dem Gebiet des ehemaligen Lagers befand, gesperrt wurde. Man hat dort nach unseren Vermessungen jetzt angefangen, zu graben und weitere Untersuchungen durchzuführen. Als ich 2017 privat dort war, hat es mich schon sehr betroffen gemacht, dass es kaum Hinweise darauf gab, was dort passiert ist. Als wir im Juni 2022 dort waren, hatten wir Kontakt zu einigen Namibiern, die sich dafür eingesetzt haben, das dort etwas passiert.

Vorher gab es dort nichts?

Das Gebiet ist ja erst 2019 zum nationalen Gedenkort erklärt worden. Lange Zeit gab es dort nichts als ein Monument für den Kolonisator Lüderitz, ein Denkmal für die gefallenen deutschen Soldaten und ab 2011 einen Gedenkstein für Kaptein Cornelius Fredericks, einem Kriegshelden der Nama, und seine Angehörigen. Auf dem fehlte aber auch der Hinweis auf die Zusammenhänge. Einem unvorbereiteten Betrachter wurde gar nicht klar, dass es da ein Lager gab, in dem Tausende zu Tode kamen. Geschweige denn, dass darunter auch Herero waren. Im Frühjahr dieses Jahres gab es zum ersten Mal ein gemeinsames Gedenken dieser beiden Gruppen. Das gibt mir ein bisschen Hoffnung, dass aus diesem gemeinsamen Erinnern vielleicht ein positiver Effekt für die Zukunft erwächst.

Warum kommt diese Aufarbeitung auf beiden Seiten so spät?

Nun ja, ich kann natürlich nicht für die namibische Seite sprechen. Mein Eindruck ist: Das waren erst einmal andere Themen wichtig. Das Land ist ja erst 1990 unabhängig geworden, vorher standen sie unter südafrikanischer Herrschaft – und damit auch unter der Apartheid. Im Nationalmuseum ist dieser Kampf um die Unabhängigkeit das zentrale Thema.

Und in Deutschland?

Auf deutscher Seite muss man sagen: Da ist eben viel verdrängt worden. Man sieht ja, wie lange es allein gedauert hat, sich der Nazizeit wirklich zuzuwenden. Der postkoloniale Diskurs, den wir jetzt seit vielleicht 25 Jahren sehen, ist sicher ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Und auch der hat sich natürlich erst einmal auf die „großen“ Kolonialmächte konzentriert. Als ich 2011 neu an das Landesmuseum in Hannover kam und sagte, ja, wenn wir Provenienzforschung betreiben, dann sollten wir vielleicht auch noch mal verstärkt unser Augenmerk auf die kolonialen Objekte richten, bin ich damit erst einmal auf Unverständnis gestoßen. Damals konzentrierte man sich auf das Kulturgut, das durch die NS-Verfolgung entzogen wurde.

Aber es gab doch mit Uwe Timms Roman „Morenga“ von 1978 und der Verfilmung Anfang der Achtziger schon einmal einen Anlauf, den kolonialen Völkermord an den Herero und Nama zum Thema zu machen.

Ich glaube, das war das einzigartige Werk eines wichtigen deutschen Literaten, der damit sehr, sehr lange – also praktisch ein Vierteljahrhundert – auf einsamem Posten stand. Das ist jetzt wirklich anders. Für unser Projekt war auch das quasi gleichzeitige Erscheinen des Films „Der vermessene Mensch“ von Lars Kaume, der diesen Stoff noch einmal bearbeitet und im Februar auf der Berlinale gefeiert wurde, ein Glücksfall. Ich werde Aufführungen in Mainz und Hannover mit einem Vortrag begleiten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.