Mein bezauberndes Rehäuglein

Weihnachten ist um, aber der Winter bleibt uns leider noch Monate erhalten. Eine erinnerungsselige Beschwerde

Winter find ich doof. Im Winter kann man eigentlich bloß an einer Bar oder hinterm Ofen hocken und sich wehmütig an bessere Zeiten erinnern. An den Frühling und den Sommer zum Beispiel. Da mein Ofen in der Regel kalt ist – ich wohne im fünften Stock, und mein Vormieter hat die Kohlen aus nicht nachvollziehbaren Gründen im Keller deponiert – hocke ich meistens an einer Bar und erinnere mich wehmütig an den Frühling und den Sommer.

Im Frühling und Sommer lebe ich immer richtig auf. Da hocke ich nicht nur an Bars rum. Da sitz ich manchmal draußen, vor der Kneipe. Und ich unternehme viel. Am Wochenende stelle ich mich immer auf die Brücke an der Museumsinsel zwischen Tucholsky- und Geschwister-Scholl-Straße und warte auf Touristendampfer. Die Oberdecks sind voll besetzt mit Menschen aus allen sozialen Schichten und aus aller Herren Länder, und wenn sie dann kurz vor der Brücke sind, zwinge ich ihnen erbarmungslos meinen Willen auf: Huldvoll lächelnd hebe ich den rechten Arm, bewege ihn ein bisschen nach links, ein bisschen nach rechts, und schon sind mir alle verfallen. Sie lachen glücklich, winken mir zu, dankbar für die Gelegenheit, mir ihre Freude und Ehrerbietung auszudrücken, bevor sie unter meinen Füßen wieder verschwinden.

Wenn das Boot auf der anderen Seite der Brücke wieder auftaucht, bespucke ich die wenigen, die meinem Willen widerstehen konnten. Ich genieße diese Macht. Nächstes Jahr will ich sie dazu bringen, sich nackig auszuziehen, die Hände zu falten, „Heil dir im Siegerkranz“ für mich zu singen und unter der Brücke dann kollektiv Selbstmord zu begehen.

Aber erst mal ist Winter, und ich hocke an einer Bar. Im Winter werde ich immer zum Barhocker. Was mache ich hier eigentlich? Ich mache zweifelhafte Bekanntschaften. „Du hast schöne Augen.“ Wer hört das nicht gern? Ich. Ich höre das nicht gern. Zumindest nicht jetzt. „Richtig niedliche Rehäuglein. Ich würd dich gern mit zu mir nehmen!“ Kann man als Mann nicht mal in Ruhe an der Bar sitzen, ohne gleich angebaggert zu werden? Ich lehne dankend ab, kippe den Rest von meinem Bier, knalle zwei Euro auf den Tresen und lasse den alten Mann sitzen. Draußen ist es kalt. Es regnet. Aber gleich nebenan ist noch eine Kneipe. Drin sitzen viele junge Frauen, die mit denselben Worten sicher Erfolg hätten. Aber die Frauen sind alle so schüchtern! Nach zwei Stunden bin ich ziemlich betrunken, und noch immer hat mir keine ein Kompliment gemacht. Ich bin verstimmt. Dabei machen sie doch immer so ein Gewese darum, wie selbstbewusst sie geworden seien, und dann trauen sie sich nicht einmal, mir zu sagen, dass ich schöne Augen habe. Alles muss man selber sagen.

Ich tippe einer Frau direkt neben mir auf die Schulter und sage: „Ich habe schöne Augen. Richtig niedliche Rehäuglein. Du würdest mich heut gern mit zu dir nehmen.“ Dabei lächle ich mein unbezwingbares Touristendampferlächeln. „Wie bist du denn drauf? Verpiss dich! Mitsamt deinen glasigen Glubschern!“ Diese Reaktion entspricht in keineswegs meinen Erwartungen. Ich bin enttäuscht. Und eine Frau, die mich gleich am Anfang unserer Beziehung so enttäuscht, kann mir gestohlen bleiben. Ich sage „Pah“, zahle und gehe. Draußen ist es kalt. Es regnet. Winter find ich doof.

VOLKER STRÜBING