Ein Träumer im Labyrinth


Bolívar dankte nach seinem Scheitern ab, Hugo Chávez hingegen lässt sich zum Show-down treiben

von GERHARD DILGER

In glühender Vormittagshitze drängen sich tausende um das improvisierte TV-Studio auf einem Hügel vor der venezolanischen Provinzhauptstadt Maracay. Auf Pappschilder haben sie in ungelenker Schrift ihre Anliegen gemalt: „Unser Betrieb schuldet uns die Sozialleistungen“ und „Danke für Brücken und Häuser“. Eine Zwanzigjährige hält ein Plakat von Hugo Chávez in seinem roten Fallschirmjägerbarett hoch, das sie mit Lippenstiftmündern verziert hat. Da heißt es aber auch: „Tod den Verschwörern!“ Damit sind die Anführer der bürgerlichen Opposition gemeint, die seit Anfang Dezember mit einem Generalstreik das Land lahm legen.

Eine Fahrzeugkolonne kommt angebraust. Sichtlich angespannt nimmt Hugo Chávez im Studio hinter dem Schreibtisch Platz. Seine Sendung „Aló Presidente“ wird allsonntäglich in die Wohnstuben der Nation übertragen, mal aus dem Regierungspalast in Caracas, mal aus der Provinz. Hier inszeniert sich der Präsident als Lehrer und Propagandist in eigener Sache und – wenn er in Laune ist – als singender Entertainer. Sein Monolog an diesem Tag dreht sich um historische Reminiszenzen oder die „bescheidenen Früchte der Revolution“. „Denken wir an Bolívar, als er sagte: Wollt ihr ein Vaterland? Sein Rezept lautete: Geduld und noch mal Geduld, Ausdauer und noch mal Ausdauer, Arbeit und noch mal Arbeit.“

Unterbrochen wird der 48-Jährige durch Anrufe, Regierungsvideos und Statements von gleichgesinnten Politikern, die wie eine Schulklasse seitlich platziert sind. Chávez liefert die Stichworte, Minister und Generäle berichten von neuen Straßen, Schulen und Sozialwohnungen. Parlamentarier kommentieren die Tagespolitik. Neben dem Präsidenten wirken sie alle wie Statisten.

Seine Fans wollen einen Blick auf ihn erhaschen, durch Rufe auf sich aufmerksam machen. Kinder werden nach vorn gereicht, auch Zettel mit Bitten an den Staatschef. Gegen Ende des mit gut drei Stunden ungewöhnlich kurzen Auftritts wirkt Chávez lockerer, und als die Menschen seitlich bis auf wenige Meter an ihn herandrängen, sagt er: „Das Volk ist die Quelle, aus ihr beziehen wir unsere Kraft für die Schlacht und den Sieg.“ Auch beim anschließenden Autokorso ins benachbarte Valencia genießt er das Bad in der Menge. Die tausendfache Begeisterung am Straßenrand ist echt.

Derlei Ausflüge in die Provinz dienen auch der Selbstvergewisserung, denn in Caracas ist der Druck auf ihn am größten: Die bürgerliche Opposition, die ihre Hochburgen in den vornehmen Vierteln der Hauptstadt hat, will mit Streiks und Demonstrationen seinen Rücktritt erzwingen. Sie kontrolliert fast alle Medien und verbreitet Umfragen, in denen Chávez' Popularitätskurve regelmäßig nach unten zeigt.

Als Hugo Chávez nach seinem Putschversuch 1992 inhaftiert war, pflegte er Zwiegespräche mit der Gipsbüste seines Idols vor seiner Zelle zu halten; Simón Bolívar hatte Anfang des 19. Jahrhunderts halb Südamerika aus der kolonialen Abhängigkeit von Spanien in die Unabhängigkeit geführt. Böse Zungen behaupten, zu Hause halte Chávez immer einen Stuhl für Bolívar frei.

Nach knapp vier Jahren an der Staatsspitze hat sich die Identifikation des bulligen Mestizen mit seinem Vorbild bis ins Unheimliche gesteigert. Der Psychoanalytiker Edmundo Chirinos zählt einige Gemeinsamkeiten zwischen Chávez und Bolívar auf: „Launisch und schwierig, wenn er frustriert ist. Manchmal ungerecht in seinem Urteil, dann wieder übermäßig tolerant. Unvorhersehbar und irritierend. Hält lieber an scheinbar unerreichbaren Träumen fest, als sich der harten Realität zu stellen. Narzisstisch. Autoritär, was die Leute gegen ihn aufbringt. Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.“

Chávez, analysiert Chirinos, verbinde Intelligenz mit Intuition. Er sei ein durch und durch ehrlicher Mensch, aber zugleich ein kühl kalkulierender Politiker. „Er ist ein Romantiker“, meint der Exminister und heutige Oppositionsabgeordnete Pastor Heydra. „Sonst glaubt doch keiner mehr an diesen Revolutionsscheiß.“ Einen Antrag seiner Parteifreunde, gegen Chávez wegen angeblicher Unzurechnungsfähigkeit ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten, lehnte der Oberste Gerichtshof ab.

Geteilt sind auch die Meinungen über Chávez Auftritte auf diplomatischem Parkett – wenn er etwa dem japanischen Kaiser auf die Schultern klopft, die spanische Königin küssen will oder zusammen mit Julio Iglesias und Jiang Zemin Volkslieder schmettert. Seine Fans sind begeistert, aus der weißen Oberschicht schlägt ihm nur Verachtung entgegen. Seine Tiraden gegen den „wilden Neoliberalismus“ haben ihm den Ruf eines exotischen Spinners oder eines zweiten Fidel Castro eingebracht, gerade bei der Regierung Bush, die den Aprilputsch gegen ihn begrüßte.

Zum Verhängnis könnte Chávez gerade sein Idealismus werden, der ihn von den Zielen seiner „bolivarianischen Revolution“ so schwärmen lässt, als sei die Entmachtung der privilegierten Mittel- und Oberschicht nur noch eine Frage der Zeit. Seine Polarisierungsstrategie habe in eine Sackgasse geführt, meint Sergio Ramírez, der im sandinistischen Nicaragua der Achtzigerjahre Vizepräsident war. Heute könne man in Lateinamerika mit Klassenkampfrhetorik nichts mehr erreichen, denn die wirtschaftlichen Strukturen seien übermächtig. Ramírez ist überzeugt: „Revolutionen von oben sind zum Scheitern verurteilt.“

Böse Zungen behaupten, Chávez halte zu Hause immer einen Stuhl für Simón Bolívar frei

„Mit seinen radikalen Sprüchen schockiert Chávez das Bürgertum und macht zugleich den Armen etwas vor“, kritisiert auch Antonio González von der Menschenrechtsorganisation Provea. Denn Korrekturen am neoliberalen Wirtschaftskurs seien nur im Bildungs- und Gesundheitswesen erfolgt. „Inkompetenz und Korruption“ hätten dazu geführt, dass die tatsächlichen Verbesserungen auf sozialem Gebiet minimal geblieben sind. Wie eh und je verschwinden Millionen von Erdöldollar in dunklen Kanälen – Chávez Rückhalt in der Armee hängt wohl auch damit zusammen. Vergessen ist sein Wahlversprechen, mit der jahrzehntelangen Selbstbedienung im Staatsappararat aufzuräumen.

Der Präsident sei oft viel zu gutmütig, lautet die Erklärung von „Comandante“ Lina Ron. Die 42-jährige Straßenkämpferin mit Jeansjacke, roter Baseballmütze und blond gefärbten Haaren sieht aus wie eine moderne Version der Sansculottes, der radikalen Volksbewegung der Französischen Revolution. Und so redet sie auch. „Ich habe gewisse Vorbehalte gegen den soften Chavismus“, bekennt sie. „Es ist unmöglich, mit Blumen auf Schüsse zu antworten. Wenn uns keine andere Wahl bleibt, bin ich für das Recht auf bewaffneten Kampf. Wir müssen mit der Oligarchie brechen, es gibt keinen Wandel ohne Gewalt.“ Von ihrem Hauptquartier in der Stadtmitte aus organisiert Lina Ron das Fußvolk des Staatschefs, das mit der Opposition um die Vorherrschaft auf der Straße ringt. Als sie im November diesen Jahres eine Demonstration der Bürgerlichen attackierte, ließ Chávez lapidar verlauten, Lina Ron sei „außer Kontrolle“.

Entgegen anders lautenden Ankündigungen hat der Präsident die relative Ruhe zwischen dem Aprilputsch und dem Auftakt des Generalstreiks nicht dazu genutzt, zum konzilianteren Teil der Opposition Brücken zu schlagen. Wer die Schützen waren, die am 11. April 20 Menschen erschossen, ist bis heute nicht geklärt, eine unabhängige Untersuchung blockte er ab. In seinem Starrsinn darf er sich durch das Verhalten der Gegenseite bestärkt fühlen, denn die meidet den Weg eines „Misstrauensreferendums“, über das er ab August 2003 regulär abgewählt werden könnte.

Wie einst Simón Bolívar scheint sich Chávez verrannt zu haben. Sein Vorbild musste die Träume von einem vereinten Südamerika begraben und abdanken. Hugo Chávez hingegen lässt sich zum Show-down treiben.